Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
entgegenschlug, hemmte den Schritt. »Warum bettelt ihr?« fragte sie, als Jugendfürsorgerin den Dingen gleich auf den Grund gehend. Die Kinder sahen sie verwundert an.
»Denaro - Geld - prego, un soldo - bitte, fünf Pfennige!« Das kleine, schwarze Volk umringte die schöne Signorina und schrie durcheinander. Horst Braun blickte belustigt auf das malerische Bild.
»Wozu wollt ihr Geld?« forschte Marietta weiter. »Abbiamo fame - wir haben Hunger!« sagte ein Kind leise.
Geld gab Marietta aber keinem Kind. Dazu war sie schon zu lange in der Fürsorge tätig. »So kommt mit!« Sie wandte sich einer Bäckerei zu. Der schwarze, kleine Schwarm hinterdrein. »No panino - nicht Brötchen - pasta fine - Kuchen«, verlangten die Leckermäulchen. »Denaro - un soldo!« - Wieder ging die Bettelei los. Horst zog Marietta lachend aus dem sie immer noch verfolgenden Kinderschwarm in ein Restaurant. »Ich habe auch fame«, sagte er lustig. »Hast du denn schon zu Mittag gespeist?« »Nein« - das hatte Marietta vollständig vergessen. Sie empfand weder Hunger noch Durst, noch Hitze. Aber dann mundeten die Ravioli alla Milanese, ein mit Fleisch gefüllter, in Tomatensoße servierter Teig, ein typisches italienisches Nationalessen, so gut, wie ihr noch nichts in Italien geschmeckt hatte. Sie saßen sich am blumengeschmückten Tisch gegenüber und tranken sich den im Kelchglas schäumenden »Asti spumante« zu. »Denn meine Heimkehr und unser Wiedersehen müssen wir gebührend feiern«, meinte Horst froh. »So, nun laß dich mal anschauen, mein Dirn. Du kommst mir heute ganz anders vor als vor drei Jahren. So - so - ja, wie soll ich sagen - fremd und doch vertraut.« Mariettas zartes Gesicht hatte sich unter dem prüfenden Blick ihres Gegenübers mit feiner Röte überzogen. »Das will ich glauben. Du bist auch nicht mehr derselbe wie damals, Horst. Drei Jahre verändern den Menschen.«
»Für mich zählen die drei Jahre, fern von der Heimat, doppelt. Ich bin tatsächlich ein anderer geworden. Ich weiß jetzt erst zu würdigen, was ich damals achtlos hinter mir gelassen habe.« Es klang sehr ernst.
»Mancher kommt als ein Schiffbrüchiger heim. Du bist noch gut dran, Horst. Du kehrst bereichert an Erfahrung zurück«, tröstete Marietta.
Wie reif dieser junge Mund sprach. Und wie fraulich mütterlich Marietta vorhin unter der sie umdrängenden Kinderschar gewirkt hatte. Dieser zarte Liebreiz - unwillkürlich mußte Horst Braun vergleichend an die Zwillingsschwester, die stolze Anita, denken. Er runzelte die hellen Augenbrauen.
Marietta sah es, und mit Herzenstakt fühlte sie die Ursache nach. »Jetzt kommt es ihm zum Bewußtsein, daß ich ihre Schwester bin«, dachte sie bedrückt. Und die Frage nach den Eltern und Geschwistern, nach all ihren Lieben drüben, die ihr auf den Lippen brannte, unterblieb.
»Woran hast du soeben gedacht, Jetta?« fragte Horst nach minutenlanger Pause, ihr im Ausdruck wechselndes Gesicht betrachtend.
»An Sao Paulo«, sagte Marietta errötend. Und mit der ihr eigenen Gradheit setzte sie hinzu: »Ich hätte so gern etwas von meinen Angehörigen gehört, wenn - wenn es dir nicht unangenehm ist, davon zu sprechen.« Warm und teilnahmsvoll, wenn auch ein wenig zaghaft, klang es.
»Unangenehm - nein, Jetta. Das ist vorüber. Amerika liegt hinter mir.«
Wieder eine Pause. Marietta fühlte sich identisch mit ihrer Zwillingsschwester,
mitverantwortlich für ihr leichtfertiges Spiel.
Horst dagegen dachte: »Wie ist es nur möglich, daß Schwestern, noch dazu Zwillinge, so verschieden, so entgegengesetzt sind. Dort alles lebhaft sprühend, auf Äußerlichkeit, auf Wirkung eingestellt. Hier bescheidene Zurückhaltung, alles verinnerlicht, durch ernste, verantwortungsvolle Tätigkeit gereift.« Daß er das nicht früher erkannt hatte.
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und begann von Sao Paulo zu erzählen. Von Mariettas Mutter, die ihm geholfen hatte, so lange drüben auszuhalten. »Ihre warmherzige, heitere Art hat mich immer wieder aufgerichtet, wenn ich drauf und dran war, meine Brücken hinter mir abzubrechen. Es ist wunderbar, wie diese Frau dort ihre Heimat in der Liebe der Ihrigen gefunden hat.« Von der Opferfreudigkeit der Mutter sprach er Marietta, die, trotz der Sehnsucht nach ihrem Kinde, auf dasselbe verzichtet, weil es zu seinem Glücke sei. Was für ein Unternehmungsgeist in ihrem Vater stecke, geradezu ein kaufmännisches Genie sei er mit seinem weiten, sicheren Blick. Die
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