Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
zu Hause. Was war denn 1917?«
»Ach nichts. Nichts, was ihr nicht wisst. Die Wohnung verführt dazu, nach hinten zu schauen. Hoffentlich bleibt das nicht so. Ich habe nicht gelernt, mit Gespenstern zu leben.«
»Es wird so bleiben«, wusste Fritz. »Wir müssen lernen, uns nicht zu wehren. Der Mensch, der sich nicht erinnern will, ist schon tot.«
»Deshalb wehre ich mich ja auch nur manchmal. Ich sehe dauernd den Wintergarten vor mir, wie er früher war. Jeden verdammten Blumentopf.«
Große Porzellankübel mit kunstvoller Goldbemalung hatten auf niedrigen Mahagonihockern mit gedrechselten Beinen gestanden. Die Kakteen waren hoch gewachsen, die exotischen Blumen hatten jedes Jahr farbenfroh geblüht. »Vorsicht, Josepha, reißen Sie die Fenster nicht so weit auf. Kamelien vertragen keine Zugluft. Auch der Hibiskus braucht eine gleichmäßige Temperatur. Und nicht zu kaltes Wasser. Frau Meyerbeer platzt vor Neid, wenn sie unsere Passionsblumen sieht.« – »Sie verhätscheln ja Ihre Pflanzen mehr als Ihre Kinder, gnädige Frau.« – »Blumen geben auch keine Widerworte, Josepha. Sie danken uns unsere Liebe und Fürsorge, fragen einem keine Löcher in den Bauch, fahren nicht Karussell mit den Gefühlen ihrer Mutter, träumen nie schlecht und haben nicht mitten in der Nacht Durst. Schon Goethe, der nur ein einziges Kind hatte und bestimmt nie eine Windel in der Hand, war für die Blumen. Er hat sie die schönen Worte der Natur genannt.«
»Ich glaube«, sagte Fritz, »hier hat ein Orangenbäumchen gestanden, das Früchte trug. Ich war äußerst beeindruckt bei meinem ersten Besuch. Meine Mutter hatte überhaupt keinen grünen Daumen. Über Alpenveilchen und Primeln kam sie nie hinaus. Die Primeln blieben ihrem Ruf nichts schuldig und gingen spätestens nach vier Tagen ein.«
»Die Moosrosen in den rosa Töpfchen haben wir im Frühling in den Vorgarten umgepflanzt. Vicky hat immer darauf geachtet, dass ihre Rose den schönsten Platz im Garten bekam. Alle meine Kinder hatten einen ausgeprägten Sinn für Schönheit. Johann Isidor war das gar nicht recht. Vor allem bei Erwin hatte er Angst, er würde zu weich geraten. So ist es ja auch gekommen.«
»Ohne Erwin«, sagte Fritz, »wären Clara und Claudette nicht rechtzeitig aus Deutschland rausgekommen. Ich ziehe heute noch den Hut, wenn ich daran denke, wie energisch mein Schwager die Auswanderung in ein Land betrieben hat, von dem er nichts wusste und in das nur die wenigsten gelangten.«
In der Quarta hatte Erwin die Zwergapfelsine auf dem Gestell mit der roten Marmorplatte in leuchtenden Farben gemalt und unter das Bild »Mein Lebensbaum« geschrieben. Der Kunstlehrer am Kaiser-Friedrichs-Gymnasium hatte es in den Schulflur gehängt, obgleich er Juden nicht mochte und den vorlauten, schlagfertigen »Sternberg-Lümmel« schon gar nicht.
Victorias Lieblinge waren die Tränenden Herzen auf dem Balkon gewesen. »Mama, müssen Blumen sterben?« – »Alles Leben muss sterben, Victoria.« – »Ich will aber nicht sterben. Nie! Nie! Nie!« Betsys schönste Tochter, die Rebellin, die nach den Sternen gegriffen hatte, war keine dreiunddreißig Jahre alt geworden. In Theresienstadt hatten die Mörder sie mit ihrem achtjährigen Sohn in den Todeszug nach Auschwitz gestoßen. »Lass Salo nicht von der Hand, Vicky!« Ob Fanny, die Gerettete, sich je trauen würde, nach ihrer Mutter zu fragen, würde sie je von ihrem Bruder sprechen können, ohne dass in ihrem Gesicht geschrieben stand: »Warum er und nicht ich?«
»Woran denkst du, Oma? Du hast eben ausgesehen, als ob du ganz weit weg warst.«
»Ich brauch’ nicht zu denken, um weit weg zu sein. In meinem Alter genügt es, nur einen Moment die Augen zu schließen, und schon geht der Zug los. Entschuldigung, Kind. Hör einfach nicht hin, wenn ich rede. Du solltest mehr unter junge Leute gehen.«
»Wozu?«, fragte Fanny. »Die, die heute jung sind, haben gestern auf der anderen Seite gestanden. Ob ich will oder nicht, ich spüre es. Auch bei den Freundlichen. Gerade bei denen.«
Im Wintergarten blühten keine Blumen mehr. Auf dem breiten Fensterbrett standen zwei zerbeulte rote Dosen mit der Aufschrift »Campbell’s Tomato Soup« in weißer Schreibschrift. In der einen Büchse wuchs Schnittlauch, in der zweiten Petersilie; seit dem Umzug aus Annas Wohnung schwächelten beide.
»Vielleicht entscheiden sie sich doch fürs Leben«, sagte Betsy.
»Hauptsache, wir haben das getan«, sagte Fritz.
Betsy dachte an ihre
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