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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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dass ich nicht dabei war«, sagte Fanny. »Es muss schön gewesen sein, damals mit vier Kindern.«
    »Fünf, als Alice kam. Na ja, sie hat nie gleichzeitig mit Otto am Tisch gesessen. Mein ältestes Kind und mein jüngstes haben einander nie gesehen.«
    Betsy rieb ihre Augen am Ärmel trocken. »Schon wieder erkältet«, stellte sie fest. »Da tränen meine Augen immer. Tut so, als wäre ich gar nicht da. Schaut euch lieber gut um. Wir wissen ja, dass das Gute nicht lange währt. Lasst es euch schmecken, ehe wir aufwachen und der liebe Gott uns Deppen nennt, weil wir wieder einmal auf unsere Träume reingefallen sind.«
    »Wann?«, fragte Fanny. »Wann sind wir auf unsere Träume reingefallen?«
    »Immer, Kind. Immer wieder. Bis es zu spät war. ›Von hier bringt uns keiner mehr weg‹, hat dein Großvater gesagt, als wir in dieses Haus eingezogen sind. Das war am 27. Januar 1900. Genau an Kaisers Geburtstag. Die Sonne hat gestrahlt, die Bäume waren alle weiß und der Himmel stahlblau, und ich hab gedacht, schöner kann das Leben nie mehr werden. Otto war damals noch unser einziges Kind, aber ich war bereits mit den Zwillingen schwanger. Otto war vier Jahre alt und durfte zur Feier des Einzugs zum ersten Mal seinen neuen Matrosenanzug anziehen. Er platzte vor Stolz. Selbst in der Wohnung ist er mit seiner Mütze rumgerannt. ›Gneisenau‹ stand drauf. Mein Gott, warum kann ich meine Erinnerungen nicht in einen Sack stopfen und den Sack im Main versenken? Es ist zum Heulen. Und genau das wird gleich geschehen.«
    »Wir fallen nie mehr auf nichts rein«, beruhigte Fanny ihre Großmutter. Sie klopfte mit dem Kaffeelöffel gegen die Tasse. »Versprochen. Nie mehr auf nichts.«
    »Das, meine Tochter, war eine doppelte Verneinung. In diesem Fall bedeutet sie, dass wir immer noch bereit sind, auf alles reinzufallen. Lass dir dein Schulgeld wiedergeben, Fräuleinchen. Das hätten wir früher gesagt. Da musste man für Bildung nämlich bezahlen – und nicht zu knapp. Lernt ihr denn gar nichts mehr in der Schule?«
    »Doch! Dass Bismarck ein ganz bedeutender Mann war, der heute von den Leuten schrecklich verkannt wird. Wenn das gute Fräulein Dr. Bernau uns das erklärt, wird sie allerdings mäuschenleise. Mich wundert’s, dass sie beim Sprechen nicht die Hand vor den Mund hält. Deutlich wird die Bernauerin erst, wenn sie gegen das Schminken wettert. Mädchen aus gutem Hause schminken sich nicht, müsst ihr wissen, und Seidenstrümpfe brauchen sie erst recht nicht.«
    »Das haben wir schon gehabt. ›Die deutsche Frau schminkt sich nicht‹, hieß es bei den Nazis. Hat sich übrigens kaum eine dran gehalten.«
    »Meine ungeliebte Klassenlehrerin kann sich eben nicht von der guten alten Zeit trennen. Eine vor den vier Waltrauds in der Klasse hat mir erzählt, dass Fräulein Bernau bei den Nazis eine ganz Fanatische gewesen sei. Sie kam nie ohne ihr Parteiabzeichen in die Schule, selbst im Luftschutzkeller hat sie noch auf dem Hitlergruß bestanden. Und man brauchte nur zu sagen: ›Ich musste was für den BDM erledigen und konnte meine Hausaufgaben nicht machen‹, und schon hat Führers treueste Jungfer gütig genickt. Für Dr. Ilsetrude Bernau war der BDM wichtiger als Bildung. So wird mir jedenfalls immer wieder berichtet. Ich glaube, Madam weiß das alles selbst nicht mehr. Sie hat auf der ganzen Linie auf Toleranz umgeschaltet.«
    »Und wie macht sich das bemerkbar? Behauptet sie etwa, Juden und Radfahrer seien auch Menschen?«
    »So weit geht sie dann doch nicht«, kicherte Fanny. »Aber sie hält große Stücke auf Onkel Toms Hütte und hat in ihrer Jugend wohl für Josephine Baker geschwärmt. In jeder Deutschstunde fleht sie uns förmlich an, ins Theater zu gehen. Im Börsensaal spielen sie gerade den Nathan. Es ist hochaktuell, wie Lessing ausgedrückt hat, was wir heute alle fühlen«, ahmte Fanny ihre Lehrerin nach. »›Das muss jeden von uns zur Menschlichkeit anspornen‹. Schnief! Schnief! Heil! Aus reinem Daffke habe ich ihr nicht erzählt, dass ich bereits zweimal im Theater war. Schon wegen Otto Rouvel, der den Nathan so spielt, dass es mir wirklich ans Herz geht.«
    »Außerdem hast du dich in den jungen Tempelherrn verliebt. Gib’s nur zu, Tochter.«
    »Weiß Gott nicht. Doch der ganze Saal bricht in schallendes Gelächter aus, wenn er sagt: ›Ich habe Fleisch wohl lange nicht gegessen: Allein was tut’s? Die Datteln sind ja reif.‹ Das ist wirklich zum Schießen. Ich weiß noch genau, wie wir

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