Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
sowohl die Wohnung im ersten Stock als auch das Haus Rothschildallee 9 endgültig für seine Schwiegermutter Betsy Sternberg zurückerkämpft. Trotz Theos wiederholten Eingaben und einem Versuch, den zuständigen Beamten auf dem Wohnungsamt mit einem silbernen Fischbesteck für zwölf Personen zu bestechen, das er 1940 bei der Ersteigerung von geraubtem jüdischem Vermögen ergattert hatte, musste die Familie Berghammer die Wohnung im ersten Stock räumen. Es war die, in der Sternbergs achtunddreißig Jahre gewohnt hatten und die sie binnen einer Frist von vierundzwanzig Stunden hatten räumen müssen. Zwei Tage darauf wurde das verdiente Parteimitglied Theo Berghammer dort eingewiesen.
Nach Deutschlands Niederlage, die er auch als seine persönliche empfand, verließ Theo endgültig die Fortune der Konjunkturritter. Er hatte fest damit gerechnet, nie wieder einem Mitglied der Familie Sternberg zu begegnen. Seine nach dem Einmarsch der Amerikaner verängstigte Frau pflegte er mit der immer gleichen Hoffnung zu beruhigen: »Die, die nicht rausgekommen sind, können gar nicht anders als tot sein. Und Erwin, Clara und die Tochter, die sich nach Palästina verkrümelt haben, sind viel zu weit ab vom Schuss, um sich mit dem Haus und unserer Wohnung zu beschäftigen.«
»Nächstes Jahr«, träumte sich Betsy zurück in ihre alte Hausfrauenvergangenheit, »wecke ich die Sauerkirschen im August ein. Josepha hat immer gesagt: ›Mitte August, oder das Vogelpack schlägt zu.‹ Einmal hat ihr Erwin sogar eine Vogelscheuche gebaut mit einem Tiroler Hut und einem Besen in der Hand, aber die Vögel haben sich nicht stören lassen. Josepha war außer sich. Wenn ich mich bloß erinnern könnte, wie viele Zimtstangen sie pro Glas genommen hat.«
»Wer weiß«, sagte Fritz, »ob es bis dahin wieder Zimtstangen gibt. Von Einweckgläsern und Gummiringen gar nicht zu reden. Wenn ich du wäre, würde ich lieber auf Rhabarber setzen. Der braucht keinen Zimt. Der hat immer gleich scheußlich geschmeckt.«
»Du bist ein ganz ungläubiger Thomas«, schimpfte Betsy. »Der Allmächtige hat doch an uns ganz andere Wunder geschehen lassen, als uns mit Gummiringen für Einweckgläser zu beliefern. Du hast natürlich auch deine Hand im Spiel gehabt. Und wie! Kennst du überhaupt meinen geliebten Schwiegersohn? Der ist unglaublich tüchtig, der lässt sich von keinem den Schneid abkaufen.«
»Die gute Laune, wenn ihm einer dumm kommt, schon gar nicht«, machte Fanny mit. Sie schlug ihrem Vater auf die Schulter. »Der erträgt sogar seine unausstehliche Tochter, ohne aus der Fassung zu geraten.«
»Schade«, fuhr Betsy fort, »dass er so entsetzlich bescheiden ist. Er will partout nicht wahrhaben, was er für seine Schwiegermutter getan hat. Ohne dich hätte ich noch nicht einmal einen Nagel zurückbekommen, Fritz, geschweige denn das ganze Haus. Mein Haus. Nein, unser Haus. Alles ist in so unwahrscheinlich kurzer Zeit geschehen, dass ich mich immer noch jeden Morgen zwicken muss, ehe ich wirklich glaube, dass ich am Leben bin. Von den Leuten, die ich nach der Befreiung im jüdischen Altersheim kennengelernt habe, höre ich ganz andere Geschichten, wenn es darum geht, wieder an das zu kommen, was die Nazis ihnen geraubt haben. Der alte Herr Grün, der drei KZs überlebt hat und der trotzdem nach vorn schaute, als ich ihm zum ersten Mal begegnete, ist zu einem kleinen grauen Männchen mit todtraurigen Augen geschrumpft. Er hatte in Frankfurt drei Geschäfte, genau wie wir. Und jetzt bekommt er nichts als dumme Briefe von den Ämtern und nie einen Menschen zu sehen, der zuständig ist.«
»Warte nur, bis ich mich als Anwalt niederlassen kann. Das sind ja gerade die Mandanten, mit denen ich rechne und die ich vertreten will. Ich fühle mich Menschen verpflichtet, die unser Schicksal teilen. Ich könnte als Anwalt nicht mehr genug Interesse für Eierdiebe und kleine Urkundenfälscher aufbringen; von Leuten, die sich scheiden lassen wollen, gar nicht zu reden. Scheidungen hielt ich immer für Sünde. Als Richter kann ich ja nichts für sie tun.«
»Lenk ausnahmsweise mal nicht vom Thema ab, Fritz. Ich will dir wenigstens einmal in Ruhe für das danken dürfen, was du für uns alle getan hast. Aber bei dem Wort ›Danke‹ tust du ja immer gleich so, als hättest du mir nur die Kohlen aus dem Keller geholt.«
»Fürs Selbstverständliche dankt man nicht.«
»Wer in aller Welt hat dir denn das weisgemacht?«
»Mein Vater, als er mir erklärt
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