Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
für die Fleischmarken Datteln bekamen und Hans und Anna so getan haben, als hätten sie ihr Leben lang darauf gewartet, eine Dattel zu kosten.«
»Noch mehr verwundert mich, dass du den Text auswendig kennst. Wie kommt’s? Ich dachte, alles, was mit der Schule zu tun hat, hängt meiner Tochter zum Hals raus.«
»Meterweit. Doch der Nathan ist die große Ausnahme. Selbst die Schule kann ihn mir nicht verleiden. Kennst du denn die Ringparabel?«
»Ja«, sagte Fritz. »Die Botschaft hörte ich schon früh, allein mir ging der Glaube flöten.«
Er erschrak, als er merkte, dass seine Hände zitterten. Für einen Moment, der ihm eine Ewigkeit war, kniff er die Augen zu, doch das Leben war ohne Erbarmen und zog den Vorhang auf. Fannys Mutter hatte davon geträumt, die Recha zu spielen. Beim ersten Rendezvous hatte sie Fritz davon erzählt. Sie hatten im Café Rumpelmayer am Fenster gesessen und sich vorgenommen, zusammen ins Schumann-Theater zu gehen und im Sommer sonntags im Wiesbadener Kurhaus Ananastörtchen zu essen. Fritz hatte französisches Käsegebäck und Rosé vom Kaiserstuhl bestellt und Victoria so getan, als kenne sie sich mit Weinen aus und würde für ihr Leben gern backen. Er sah ihr burgunderrotes, tief ausgeschnittenes Kleid mit den großen weißen Perlmuttknöpfen. Auf dem Revers glänzte eine goldene Schmetterlingsbrosche mit Rubinen und Smaragden auf den Flügeln. »Sie werden die schönste Tochter, die Nathan je gehabt hat, Fräulein Victoria«, hörte sich Fritz sagen.
»Ist was mit dir?«, fragte Betsy.
»Was soll mit mir sein?«
»Mit Menschen, die Gegenfragen stellen, ist meistens was. Besonders, wenn sie von einem Moment zum anderen so blass werden wie du eben.«
»Fanny, mich dünkt, deine Großmutter sieht zu viel.«
»Viel«, sagte Fanny, »aber nicht zu viel.«
Der Tageskalender, geschickt und liebevoll von ihr aus Papierresten gebastelt und für jeden Tag mit Zeichnungen, Zitaten aus der Literatur, Sprichwörtern und Weisheiten aus dem Alten Testament versehen, zeigte den 26. September. Für den Tag zuvor hatte Fanny das Lessingwort »Kein Mensch muss müssen« gewählt. Sie hielt ihrem Vater das abgerissene Kalenderblatt hin. »Hat er extra für uns geschrieben«, sagte sie. »Habe ich gleich bemerkt, als ich’s zum ersten Mal las.«
»Nebbich«, widersprach Fritz. »Meister Lessing hätte besser mit mir geredet, ehe er mit seinem Nathan begann. Jeder Mensch muss müssen.«
Die Sonne tauchte den Wintergarten in jenes herbstgoldene Licht, an das sich Betsy selbst in der Hölle von Theresienstadt hatte erinnern müssen. Die großen Fenster des kleinen Raums hatten die Bomben, die die beiden oberen Stockwerke des Hauses zerstört hatten, ohne einen Sprung überstanden. Auch der Kirschbaum im Hinterhof hatte die Feuersbrunst überlebt.
»Eine Rose blüht auch, wenn niemand zuschaut«, sinnierte Betsy. »Und ein Baum schert sich nicht um die Zeit, in der er lebt. Unserer schon gar nicht.«
Auf der mit Efeu bewachsenen Mauer, die das Haus Rothschildallee 9 von den Häusern in der Martin-Luther-Straße trennte, hockten Amseln und Blaumeisen. Tauben saßen auf Schornsteinen, die furchtlosen auf den Wäschegestellen vor den Küchenfenstern. Laut zwitscherten die Spatzen.
»›Die Vögel singen auch für die Juden‹, hat Johann Isidor gesagt. Das war an einem der letzten Tage in dieser Wohnung. Ich sehe noch, wie er in der Küche stand, in den Kirschbaum starrte und den Kopf schüttelte.«
»Um bei den Kirschen zu bleiben«, sagte Fritz. Sein Lächeln war ohne Fröhlichkeit. »Ich wette, ein gewisser Theo Berghammer erzählt jetzt überall und jedem, dass mit den Juden nicht gut Kirschen essen ist.«
»Hauptsache«, fand Betsy, »es gelingt uns irgendwann, nicht mehr an ihn zu denken. Wenn es bei uns Kirschauflauf gab, war er nicht wegzuschlagen. Josepha hat sich immer grün geärgert und gesagt, der Bub soll sich daheim satt essen.«
Theo Berghammer, im Haus Rothschildallee 9 aufgewachsen, war in der Zeit der großen Illusion Otto Sternbergs einziger Freund gewesen. Otto war als Achtzehnjähriger im Ersten Weltkrieg gefallen, Theo unmittelbar darauf schwer verwundet worden. Die Hoffnungen, die ihm auf Wohlstand und Achtung geblieben waren, setzte er ab 1933 in die Nazis – und musste das bitter büßen. Im August 1948 hatte nämlich Landgerichtsrat Dr. Friedrich Feuereisen nach zähen Verhandlungen mit einem Richter, dessen Rechtsempfinden seinem Berufsstand keine Ehre machte,
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