Neue Bündnisse
nur allzu wenig Zeit hatte zu wachsen.
»Es wird mir ein Vergnügen sein, sie aus ihren Betten zu werfen«, bemerkte Siuan, als Egwene geendet hatte. »Wenn ich in diesen Sachen herumlaufen muß...« Sie ließ Egwenes Arm los und wollte sich schon abwenden, hielt aber dann mit ernster, sogar grimmiger Miene noch einmal inne. »Ich weiß, daß Ihr eine zweite Gerra Kishar - oder vielleicht Sereille Bagand - sein wollt. Ihr habt das Zeug dazu. Aber achtet darauf, daß Ihr Euch nicht als weitere Shein Chunla erweist Gute Nacht, Mutter. Schlaft gut.«
Egwene stand da und sah ihr nach, eine in ihren Umhang gehüllte Gestalt, die manchmal auf dem Weg ausglitt und zornig so laut Worte zischte, daß man sie fast verstehen konnte. Gerra und Sereille waren als zwei der größten Amyrlins in Erinnerung geblieben. Beide hatten den Einfluß und das Ansehen der Weißen Burg in einem Maße verstärkt, wie es seit der Zeit vor Artur Falkenflügel selten erreicht wurde. Beide kontrollierten die Burg auch selbst, Gerra durch geschicktes Ausspielen einer Partei des Saals gegen die andere und Sereille durch reine Willenskraft. Shein Chunla war eine andere Geschichte, da sie die Macht des Amyrlin-Sitzes verschwendet hatte, indem sie der Burg die meisten Schwestern entfremdete. Die Welt glaubte, Shein sei vor fast vierhundert Jahren im Amt gestorben, aber die tief verborgene Wahrheit war, daß sie abgesetzt und in ein lebenslanges Exil geschickt worden war. Selbst die geheimen Aufzeichnungen behandeln gewisse Bereiche nur oberflächlich, und doch war es recht offensichtlich, daß die Schwestern, die Shein bewachten, nach der Aufdeckung ihres vierten Plans, sie wieder auf den Amyrlin-Sitz zu bringen, sie im Schlaf mit einem Kissen erstickten. Egwene erschauderte und sagte sich, es läge an der Kälte.
Sie wandte sich um und begab sich langsam zu ihrem Zelt zurück. Gut schlafen? Der Vollmond hing tief am Himmel, und der Sonnenaufgang war noch Stunden entfernt, aber sie war sich nicht sicher, daß sie überhaupt noch würde schlafen können.
KAPITEL 8
Unerwartete Abwesenheiten
Egwene rief den Saal der Burg zusammen, noch bevor die Sonne am nächsten Morgen über dem Horizont sichtbar wurde. In Tar Valon wäre dies von aufwendigen Zeremonien begleitet gewesen, und selbst seit Verlassen Salidars hatten sie trotz der Beschwernisse der Reise einige davon beibehalten. Jetzt ging Sheriam einfach in der noch herrschenden Dunkelheit von einem Zelt der Sitzenden zum anderen und verkündete, daß der Amyrlin-Sitz den Saal zusammengerufen hatte. Schließlich standen in der Dämmerung unmittelbar vor Sonnenaufgang achtzehn Frauen im Halbkreis auf dem Schnee, um Egwene zuzuhören, alle gegen die Kälte warm angezogen, die ihren Atem gefrieren ließ.
Andere Schwestern tauchten allmählich hinter ihnen auf, um ebenfalls zuzuhören, zunächst nur wenige, aber als sie niemand zum Gehen aufforderte, wuchs die Gruppe an, und ein sehr gedämpftes Flüstern verbreitete sich. Nur wenige Schwestern würden es wagen, auch nur eine einzelne Sitzende zu stören, geschweige denn den gesamten Saal. Die Aufgenommenen in gegürteten Gewändern und Umhängen, die hinter den Aes Sedai erschienen waren, verhielten sich natürlich noch stiller, und die sich ebenfalls versammelnden Novizinnen, die keine Arbeiten zu erledigen hatten, wiederum stiller, obwohl sie weitaus zahlreicher waren. Das Lager beherbergte inzwischen eineinhalb Mal so viele Novizinnen wie Schwestern, so viele, daß nur wenige einen angemessenen weißen Umhang besaßen und die meisten sich mit einem einfachen weißen Rock anstatt eines Novizinnengewands begnügen mußten. Einige Schwestern waren noch immer der Meinung, man sollte zu der alten Verfahrensweise zurückkehren und Mädchen sie aufspüren lassen, aber die meisten bedauerten die verlorenen Jahre, in denen die Anzahl der Aes Sedai abnahm. Egwene selbst erschauderte fast, wann immer sie daran dachte, was die Burg hätte sein können. Dies war eine Veränderung, gegen die nicht einmal Siuan Einwände erheben konnte.
Plötzlich kam Carlinya um die Ecke eines Zeltes und blieb beim Anblick Egwenes und der Sitzenden jäh stehen. Die Weiße Schwester, die normalerweise vollkommene Haltung bewahrte, starrte mit offenem Mund herüber, und ihr helles Gesicht rötete sich, bevor sie davoneilte, wobei sie über die Schulter zurückblickte. Egwene behielt nur mühsam eine ausdruckslose Miene bei. Alle anderen waren zu sehr mit dem beschäftigt, was
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