Neue Leben: Roman (German Edition)
hätte man mir gerade einen Gips vom Fuß geschnitten. Ich durchforstete die Buchhandlung, legte mich vor einer alten Friedhofsmauer ins Gras und genoß die vollkommene Ruhe. Als es zwölf schlug, ging ich Mittag essen, trank Bier und sonnte mich dann wieder.
Es war gegen drei, als ich eine Telephonzelle betrat und zum ersten Mal das samtene, tiefe Rufzeichen von Nadjas Apparat hörte, das mir in den kommenden Monaten so vertraut werden sollte. Niemand hob ab.
Bevor ich, mein Buchpaket unterm Arm, in den Bus stieg, versuchte ich es kurz vor fünf noch ein letztes Mal, wieder vergeblich.
Im Triumphgefühl über den gewonnenen Tag verfaßte ich meinen ersten Brief. In Großbuchstaben schrieb ich ÖSTERREICH und SALZBURG auf das Kuvert, als wäre das die Parole, die mir Immunität garantierte.
Am nächsten Morgen machte ich wieder mit. Hatte ich es bisher geschafft, dem Befehlegeben zu entgehen, kam ich diesmal um die »Zielansprachen« 201 nicht herum. Ich meldete fliegende Essenskübel unbekannten Inhalts in der Vorwärtsbewegung, schweren Beschuß durch zu kurz treffende Gulaschkanonen aus den eigenen Reihen und befahl Rückzug. Ich weiß, auch das ist erbärmlich, damals jedoch hielt ich mir meinen Lacherfolg zugute. Der Leutnant, ein Ilmenauer Kommilitone 202 , beorderte uns zurück und ließ mich die Zielansprache wiederholen.
Auch die zweite, ja selbst noch meine dritte Zielanspracheernteten Lachen. Danach aber wollten alle, ausnahmslos alle, daß ich richtige Befehle erteilte. Die anderen Gruppen warteten bereits abmarschbereit. Nun hatten sie mich dort, wo sie mich wollten. Diese Demütigung war noch schlimmer, als am Ersten Mai an der Tribüne vorüberzuziehen. Am Nachmittag fand ich eine Ausgangskarte auf meinem Bett.
Ich kümmerte mich um Kleingeld und belagerte ab acht eine funktionierende Telephonzelle.
Es war schon nach zehn, als sich Nadja endlich meldete. Ich hatte geglaubt, sie wisse durch meine Mutter, wo ich sei, und könne sich vorstellen, unter welchen Umständen ich diese Wochen verbrachte. Sie aber schien nur glücklich, mich endlich zu hören, nannte Namen, Freunde, die mich kennenlernen wollten. Sie wünsche sich ein Photo von mir, und Briefe, viele Briefe.
Ich mußte ihr erklären, wo ich war und was ich hier tat, und je länger ich sprach, um so spürbarer wurde ihr Schweigen, ein Schweigen, das mich zwang, mehr und mehr vom hiesigen Alltag preiszugeben. Ich hoffte schon, die Verbindung wäre unterbrochen, da herrschte mich Nadja an: Warum fährst du denn in so ein Lager?
Statt zu antworten, begann ich, von meinen Zielansprachen zu berichten und wie ich meine Gruppe damit geradezu in einen Lachtaumel versetzt und mir immer neue Szenarien ausgedacht hatte … »Mach dich doch nicht lächerlich!« rief Nadja.
Im selben Augenblick wurde ich ganz ruhig. Der Kampf war vorbei, ich hatte verloren, alles Weitere ging mich nichts mehr an.
»Das lohnt doch nicht«, hörte ich Nadja dann sagen. Sie kenne eine schöne Pension in Prag, wann ich denn komme, sie sehne sich so nach mir …
Mein Armeebuch war zu einem blinden Fleck geworden. Ich wußte nicht, wann ich mich jemals wieder an die Arbeit machenwürde. Wenn ich nach Dienstschluß nicht auf dem Bett lag, spielte ich Schach. Ich war ein beliebter Gegner, weil ich meistens verlor.
Am Ende der fünf Wochen, am vorletzten Tag, hatten wir noch einmal Politunterricht. Ich weiß die Frage nicht mehr und auch nicht meine Antwort, auf die es keinerlei Reaktionen gab. Wahrscheinlich ging es ums Wettrüsten.
Vor der letzten Stunde, sie galt als Prüfung, wurden Zensuren verkündet. Mit Gesamtnote »vier« – im ersten Seminar war mein Schweigen noch mit einer Zwei belohnt worden – war ich der Schlechteste.
Kaum hatte der Leutnant, ein in sich gekehrter Informatikstudent, sein Urteil verkündet, als ein »Sturm der Entrüstung« losbrach, ein Hohngelächter voller Zwischenrufe. Gorbatschow war seit ein paar Wochen im Amt.
In der Pause wurde ich zu einem Offizier gerufen, einem Hauptmann, im zivilen Leben Dozent für Werkstoffkunde, der meinen Vornamen kannte, mich duzte und all das tat, was er unter »ins Gewissen reden« verstand. Ich solle mir meine Laufbahn nicht durch läppische Dummheiten verderben. Er nannte mich naiv, unterstellte mir eine »Mit dem Kopf durch die Wand«-Mentalität. Ich müsse Kompromisse eingehen und so weiter. Ich erwiderte in der Manier eines Simpels, nur meine Meinung gesagt zu haben, wie es doch immer von
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