Neue Leben: Roman (German Edition)
uns erwartet werde.
»Das ist es nicht wert, Enrico«, rief er, »wirklich nicht.« Die Resignation zog seine Stimme in vertrauenerweckende Tiefen. Ich ließ ihn reden und betrachtete das dünne Lächeln des Honecker-Porträts vor blauem Hintergrund. Von einem Augenblick auf den anderen war ich kein Schiffbrüchiger mehr, sondern wieder der Kapitän, der einzige Aufrechte, der sich nicht von der allgemeinen Verkommenheit anstecken ließ.
Die Frage des armen Leutnants, wo ich denn gewesen sei –ich war verspätet in den »Seminarraum« zurückgekehrt –, beantwortete ich mit einem schnippischen »Na, wo schon«, was ich für einen starken Auftakt hielt.
In einer Stunde konnte ich bereits exmatrikuliert sein. Dieser unglückselige Leutnant, dieses Werkzeug des Schicksals, wußte ja selbst nicht ein noch aus – dafür sprachen zumindest die roten Flecken an seinem Hals –, aber auf wundersame Weise hielt er sich weiter an seine Vorgaben. Und deshalb würde er mich in wenigen Minuten bis an sein Lebensende auf dem Gewissen haben.
Frage um Frage ließ ich passieren, ohne mich zu melden. Doch während ich lauernd verharrte, geschah etwas, was Sie rührend oder fürchterlich nennen können: Meine Schachspieler ließen mir über Bänke hinweg Zettel mit den »richtigen Antworten« zukommen. Einer nach dem anderen stand auf und antwortete, mancher erhielt zwei oder gar drei Chancen.
Als ich mich endlich meldete, verschwanden die anderen Arme. Man wies den armen Leutnant auf mich hin. Aber nicht ich, mein Nachbar wurde aufgerufen.
Bevor ich mich überhaupt wieder melden konnte, hörte ich meinen Nachnamen, in meinem Kopf Trommelwirbel. Ich bat den armen Leutnant, die Frage zu wiederholen.
Ich antwortete zögernd, ganz so, als müßte ich mich überwinden und zur Wahrheit durchringen, fügte aber diesmal Adjektive wie »dumm« und »menschenverachtend« ein. Ich hoffe, sagte ich zum Schluß, mich diesmal klar ausgedrückt zu haben. Der Stille im Raum und der Miene des Leutnants entnahm ich, daß die Sache gelaufen war.
Alle »bestanden« die Prüfung. Der Leutnant verkündete es am Ende der Stunde beiläufig und verließ grußlos den Raum. Mich feierten sie als Sieger, klopften mir wild auf Schulter und Rücken und hielten meine Versteinerung für fassungslosesGlück. »Ich hab nie geglaubt«, bekannte der Sportler aus dem Bett unter mir feierlich und musterte mich von Kopf bis Fuß, »daß du von der Firma bist!« 203
Am Abend eines Tages, der noch mit Weckpfiff und Frühsport begonnen hatte, schloß ich in Prag eine wunderschöne Frau aus Salzburg in die Arme.
Ich hatte Nadja im einfahrenden Bummelzug erspäht (wenn ich mich richtig erinnere, kam sie von Linz) und stand vor ihr, als sie ihren Fuß auf den Bahnsteig setzte. Sie schob mich zurück, ließ Plastetüten und Koffer fallen und schlang die Arme um meinen Hals. Über ihre Schulter sah ich wie aus einem Versteck den Aussteigenden zu.
»Laß dich anschauen«, rief Nadja, als sei ihr endlich der richtige Satz eingefallen. Sie trug dasselbe braune Kostüm wie beim Abschied in Dresden. Plötzlich preßte sie ihren Mund auf meinen, ihre Zunge drang weit vor.
Die Pension, zu der wir im Taxi fuhren, lag im Villenviertel »Vinohrady«. Es war alles etwas heruntergekommen, doch weder der marode Zaun noch das rostzerfressene Gartentor, an dessen Maschendraht die Briefkästen baumelten, konnten das Herrschaftliche des Hauses schmälern. Wir gingen zwischen Tulpenbeeten und Obstbäumen, von deren Duft die Luft schwer war, zur Haustür, in der uns Frau Zoubková erwartete. Sie hielt Dora am Halsband, eine Hündin, schwarz wie die Hölle und sterbensmüde. In ihren Filzlatschen erweckte Frau Zoubková den Eindruck, sie bewege sich nur deshalb den ganzen Tag, um auf diese Weise das Linoleum zu polieren. Meistens ging sie dicht an den Wänden entlang, und erst wenn einer ihrer Gäste vom Küchentisch auf geradem Wege zur Tür hinaus war, folgte sie und verwischte die Fährte.
Frau Zoubková bewohnte im ersten Stock zwei Zimmer neben der Küche und vermietete die drei oberen Gemächer, die durch Symbole an den Türen als Sonnen-, Stern- und Mondzimmer ausgewiesen waren.
Muß ich noch sagen, daß wir das Sonnenzimmer bekamen? Die hohen Fenster lagen nach Süden, wo wir hinter den weißen Baumkuppen die Stadt mehr ahnten als sahen. Das Plätschern des Springbrunnens und Vogelgezwitscher waren die einzigen Geräusche.
Von den Früchten, die wir spätabends unter den
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