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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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traurigen Blicken von Dora wuschen, wußte ich oft nicht mal die Namen. Noch erstaunlicher: Weintrauben Ende April! Wie Lebkuchen zu Ostern. Nadja gefielen solche Vergleiche. Sie ließ mich jede Frucht kosten, und ich mußte sagen, wie sie schmeckte und woran sie mich erinnerte. Dabei sah ich auf Nadjas nasse, vom kalten Wasser geröteten Hände, die schälten und schnitten und mir unentwegt etwas in den Mund schoben, so daß ich mit Kauen und Sprechen nicht nachkam, worüber sie lachte, und je mehr sie lachte, desto schneller bewegten sich ihre Finger, desto belebter war das Spiel der Sehnen auf ihrem Handrücken … Plötzlich hielt ich ihre Unterarme fest, nicht um Nadja Einhalt zu gebieten, sondern weil alles so unfaßbar schön war.
    Ich leckte einen Tropfen von ihrem Handteller, fuhr ein zweites Mal, wie um sicherzugehen, daß ich auch alles erwischt hatte, mit der Zunge von ihrem Handgelenk hinauf die Lebenslinie entlang und glaubte, in dieser herben Süße eine Pampelmuse zu schmecken. Wie Wimpel leuchteten die Fruchtreste an Nadjas Nägeln, grün, rot, weiß. Fingerkuppe um Fingerkuppe schob sie mir in den Mund und berührte meine Zähne. Wie eine Blinde tastete sie über mein Gesicht, fuhr meine Nase auf und ab, zeichnete Augenbrauen und Lippen nach, während ich ihre Bluse öffnete und ihr Hemd nach oben schob.
    Beim Knarren der Holztreppe erstarrten wir, lauschten – Wasser rann auf die Fliesen. Das Waschbecken lief über! Nadja drehte den Hahn zu, tauchte die Hände ins Wasser, holte die Schalen aus dem Abfluß, drehte sich langsam zu mir, hob die Arme und streckte sich, wie um ihre Brüste zu zeigen. Ich wollte sie gerade küssen, als mir etwas auf den Kopf tropfte. Nadja hielt noch die Fruchtschalen in Händen. Dora, der Höllenhund, schlabberte das Wasser vom Boden.
    Halbnackt hantierten wir dann nebeneinander wie Fremde, wir mußten aufräumen, abspülen, zusammenpacken, vor der Toilette aufeinander warten und über die endlose Holztreppe nach oben steigen.
    Ich sah Nadjas Silhouette vor dem Fenster. Sie hatte ihren Slip anbehalten. Es klang wie ein Geständnis, als sie mir ins Ohr flüsterte, daß sie ihre Tage habe und wir heute nicht könnten … Ich verstand nicht, warum das eine das andere ausschloß, war aber, wie ich gestehen muß, auch erleichtert.
    Wie überflüssig meine Bedenken gewesen waren, spürte ich schnell. Nadja verstand sich darauf, mir das Gefühl zu geben, selbst der Erfinder all dieser unbekannten Liebkosungen zu sein.
    Dann, es war schon gegen Morgen, gab es einen Moment, in dem ich fürchtete, alles Glück verdorben zu haben. Nachdem Nadjas Kopf wieder auf meine Schulter zurückgekehrt war, sagte ich unwillkürlich »danke«, so unglaublich fand ich, was sie getan hatte. Noch in dem Augenblick, da ich es aussprach, spürte ich ihre Reglosigkeit, ich wußte, wie falsch, wie dumm das gewesen war. Ihr Gesicht erschien über mir, sie stützte den Kopf auf die Hand, sah mich an, lächelte und fragte, die wievielte Frau sie denn für mich sei. Ich zögerte. Los, sagte sie. Ich hob meine Linke und spreizte Daumen und Zeigefinger ab.
    Nadja sagte, ich solle ihr nichts vormachen. Dann amüsierte sie sich über mich, machte mir aber plötzlich Vorhaltungen, nichtauf sie gewartet zu haben. Als ich mich weigerte, ihr von Katalin zu erzählen, wurde sie sogar ungehalten.
    Beim Frühstück legte sich Dora zwischen unsere Stühle. Frau Zoubková nickte uns vielsagend zu. Sollten wir Spuren in der Küche hinterlassen haben, so waren diese längst verwischt.
    Traumwandlerisch fanden Nadja und ich die schönsten Flekken der Stadt, fuhren mit der Bahn hinauf zum Petřin, stiegen auf halber Höhe aus, gingen durch die Gischt der blühenden Kirschbäume und legten uns ins Gras.
    Nahe der Moldau, nur wenige hundert Meter von der Karlsbrücke entfernt, betraten wir durch einen Torbogen unversehens einen verwunschenen Park, an dessen Ende wir über breite Stufen zu einer Terrasse aus braunem Sandstein emporstiegen, auf der eine Rotbuche stand. Ich wollte gerade die Blätter, die ich von weitem für verwelkt gehalten hatte, berühren, als es hinter uns rauschte. Wir fuhren herum und sahen zwei Pfauen, die gleichzeitig ihr Rad schlugen.
    Als ich Nadja zum Zug brachte, von ihrem Gepäck war nur ein Köfferchen übriggeblieben, sprachen wir kaum miteinander. Schweigend durchquerten wir den Bahnhof. Auf dem Bahnsteig, ihr Zug mußte jeden Moment einfahren, sagte Nadja, daß ich ihr das nächste Mal von

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