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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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das sollte der eigentliche Clou der ganzen Geschichte werden – ist es die Staatssicherheit selbst gewesen, die damit begonnen hat, um zu provozieren, um die Leute ausfragen zu können, sie zur Denunziation zu verleiten. Nun wendet sich ihr mieser Trick gegen sie selbst und wächst ihr über den Kopf.
    Ich mußte nur beginnen, ich spürte bereits den Rausch, in dem sich alles fügen würde.
    Ihr Enrico T.

 
     
    Sonnabend, 5. 5. 90
    Liebe Nicoletta!
    Im nachhinein wirkt die Affäre mit Nadja durchschaubar. Damals wunderte ich mich, daß eine Frau wie sie sich mir in die Arme warf. Nadja war Veras große Liebe gewesen. Anfang 81 hatte ihre Mutter einen schwulen Schweizer geheiratet, und im Mai waren sie ausgereist.
    Vera hatte sich nur langsam davon erholt. Bis heute vermeiden wir es, Nadja zu erwähnen. Nadja hieß eigentlich Sabine, aber wegen Veras Begeisterung für Breton nannten sie bald alle Nadja.
    Bei den wenigen mir damals zugestandenen Besuchen hatte Vera Nadja und mich wie Kinder behandelt, uns Welpen genannt und mich jedesmal bald wieder fortgeschickt. Von Nadja wußte ich nur, daß verheiratete Exemplare meines Geschlechts – Vera brachte damals das Wort »Mann« nicht über die Lippen – vor ihrer Tür kampiert hätten, wobei es zu Prügeleien um die Sechzehnjährige gekommen sei.
    Am 23. März 1985 nachmittags gegen drei Uhr traf ich Nadja auf dem Treppenabsatz unter Veras Wohnung wieder. Zuerst erkannte ich sie nicht, weil sie einen Hut aufhatte und heulte. Gekleidet war sie wie früher. Ihr neuer Dialekt verwirrte mich.
    Vera hatte ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen, Nadja war hartnäckig geblieben und hatte versucht, mit Vera zu reden. Und dann war ich aufgetaucht. Wie vom Himmel gefallen hätte ich plötzlich vor ihr gestanden … Ich weiß nicht, wie oft wir uns das in den folgenden Monaten erzählt haben. Sie habe sofort gewußt: Das ist er! Den will ich!
    Ich war mit Vera verabredet gewesen, aber Nadja einfach stehenzulassen brachte ich nicht über mich. Nadja fragte, ob ich sie auf ihrem alten Schulweg begleiten wolle, und erzählte, wieoft sie versucht habe, nach Dresden zu kommen. Wir gingen dann weiter zum Rosengarten und zur Elbe, liefen am Ufer entlang und überquerten das Blaue Wunder, ohne daß Nadjas Redefluß je gestockt oder sie den Arm aus meinem genommen hätte. Auf dem Rückweg über die Elbwiesen dämmerte es schon.
    Mein Part beschränkte sich aufs Zuhören, während sie über Geld, Arbeit, Studium und ihre Wohnung in Salzburg sprach, wohin es sie vor einem Jahr verschlagen hatte. Österreich gefalle ihr besser als die Schweiz. Nadja schien mir nicht sonderlich zufrieden mit ihrem Leben zu sein, doch meine Frage, warum sie denn nicht ihre Arbeit oder ihr Studium wechsle, beantwortete sie mit einer abrupten Kopfbewegung und einem geradezu empörten »Wieso denn?«.
    Vielleicht wäre unsere Begegnung damit beendet gewesen, aber der Sonnenuntergang und die Silhouette der Altstadt, auf die wir zuliefen, verliehen unserem Schweigen Bedeutung.
    Im »Secundo genitur« auf der Brühlschen Terrasse kannte Nadja einen Kellner. So hatten wir einen ganzen Tisch für uns. Nadja fragte, ob ich denn immer noch schriebe. Ich erzählte ihr von meinem Armeebuch, verschwieg jedoch, in zwei Tagen nach Seeligenstädt ins Armeelager zu müssen. Jeder DDR -Student, wenn er nicht ausgemustert war, hatte diese fünf Wochen zu absolvieren.
    Ich brachte Nadja zur Straßenbahnhaltestelle – sie wohnte bei einer Freundin in Dresden-Laubegast. Wir sagten einander Lebewohl, denn wir konnten uns auf unser Gespür für dramatische Steigerungen verlassen. Schließlich gab es nicht so viele Züge, die nachmittags nach München fuhren.
    Nadja war eine Silhouette mit Hut unter dem Bogen des Bahnhofsdaches – von draußen blendete die Sonne. Als sie dann in ihrem dunkelbraunen Kostüm auf mich zugerannt kam, mirum den Hals fiel und flüsterte »Ich hab’s gewußt, ich hab’s ja gewußt«, war ich mir sicher, sie zu lieben. Wie sonst war es zu erklären, daß mir die Demütigung, die ich durch diesen Abschied erfuhr – die Demütigung, nicht zu Nadja in den Zug steigen zu dürfen –, die Tränen in die Augen trieb?
    Meine Mutter empfing mich mit Vorwürfen. Ich hatte den Friseurtermin bei einer Nachbarin versäumt. Nun griff sie selbst zur Schere, rasierte meinen Nacken aus und stellte mir die gepackte Tasche vor die Füße.
    Der Zug nach Jena war überfüllt. Mir war es recht. Ich wollte nicht lesen,

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