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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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werden, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, daß mir die Welt, so, wie sie war, abhanden kommen könnte.
    Das war nicht die Angst vor dem Atomkrieg, dem Weltuntergang. Es war die Angst, alles, worauf ich mich bezog, könnte mir verlorengehen; das Weltgefüge, dem ich mich durch Denk- und Gefühlsmutation angepaßt hatte, verschwände von einem Tag auf den anderen und ließe nichts weiter zurück als eine große Leere. So, wie ich gefürchtet hatte, zu spät zur Armee eingezogen zu werden, so fürchtete ich nun, bevor ich selbst zum Schuß kommen würde, könnte alles Großwild erlegt sein und für mich blieben nur Mäuse und Ratten übrig.
    Es war ein absurder Gedanke, aber nicht weniger absurd, als nachts nackt im Wald zu sitzen, froh und dankbar über die Gesellschaft einer Fliege.
    Allein der Schmerz über dem Herzen und die Fliege schienen zu existieren, die einzige Wirklichkeit, über die ich verfügte, das einzige, was meine Gedanken und Gefühle davor bewahrte, sich in der Schwerelosigkeit zu verflüchtigen.
    Dort, wo der Schweiß noch nicht getrocknet war, spürte ich den Lufthauch und fröstelte. Mit leerem Kopf, leerem Herzen und ergeben in mein Schicksal kroch ich zurück ins Bett.
    Als ich erwachte, war es warm, und Fliegen, ein ganzer Schwarm, summten über mir.
    Wahrscheinlich halten Sie mich nun tatsächlich für verrückt oder zumindest für etwas wunderlich. Von heute aus gesehen, gehört dieses nächtliche Erlebnis zu den wenigen Episoden, bei denen ich im Rückblick Mitleid mit jenem Menschen empfinde, der ich damals gewesen bin.
     
    Nun aber zurück nach Altenburg, wohin ich Anfang September 88, noch vor Beginn meines letzten Studienjahres, fuhr.
    Über Flieders »Julie«-Proben zu schreiben wäre ein eigenes Kapitel wert. Lesen Sie noch einmal Strindbergs Stück und achten Sie auf die Brüche, auf das unentwegte Bleiben – Gehen – Bleiben – Gehen. Es war in einem Maß von mir selbst die Rede, daß es schon unheimlich war.
    Nicht weniger unheimlich war mir die Erkenntnis, wie eng verwandt Regieführen und Schreiben sind. Von Flieder lernte ich, daß ein Dialog nicht dazu dient, etwas mitzuteilen, sondern die Verhältnisse unter den Figuren zu klären. Daß es egal ist, worüber man spricht, wenn man nur weiß, was man erzählen will. Daß es sich rächt, wenn man auch nur eine einzige Beziehung vernachlässigt, daß kein Gegenstand und kein Schritt in der Choreographie vergessen werden darf.
    Gibt es etwas Schöneres als eine plausible Figur? Könnte ich im Schreiben je Flieders Niveau erreichen, würde meine Novelleein Meisterwerk. Warum aber, fragte ich mich beunruhigt, ist Flieder kein
berühmter
Regisseur?
    Doch was wären Flieders Proben ohne Michaela gewesen! Ich durfte Michaela anschauen, beobachten, studieren, und niemand, auch sie nicht, konnte mir daraus einen Vorwurf machen. Sie mit Blicken zu verschlingen gehörte ja zu meinen Aufgaben. Ich träumte davon, Michaela und ich seien ein Paar. Diese Vorstellung kollidierte allerdings mit meinem Wunsch, so bald wie möglich auszureisen. Nur aus Rücksicht auf Mutter, nur weil es mir besser schien, das Studium abzuschließen, nur weil ich von Vera seit ihrer Ausreise nichts gehört hatte, schob ich diesen Schritt vor mir her. Und ich blendete aus, daß Michaela Tag für Tag mit Max (unserem Jean) kam und ging. Sie hatte einen Sohn aus erster Ehe, der manchmal in der Kantine auf sie wartete, wo er malte oder mit der Küchenhilfe Karten spielte.
    Zu Beginn der zweiten Woche, abends, nach der Probe, umarmte ich Michaela wie immer zum Abschied, unsere Wangen berührten sich. Ich wollte mich wieder aufrichten, sie jedoch hielt mich fest – eine Ewigkeit, wie mir schien. Danach stieg Michaela wie immer zu Max in den Wartburg. Ich glaubte, diese lange Umarmung sei Teil jener verwahrlosten Intimität, die für das Theater so typisch ist. Am nächsten Abend jedoch wiederholte sich dieser Abschied. Diesmal hielt auch ich Michaela fest, so lange, bis sie nicht mehr auf ihren Zehenspitzen stehen konnte. Am Mittwoch begegneten wir uns nach der Abendprobe auf dem Flur vor der Kantine, besser gesagt, wir liefen aufeinander zu. Ich hatte noch meine Schreibkladde in der Hand. Es wäre zuviel, wenn ich behauptete, bereits an ihrem Gang alles erkannt zu haben, doch es ist keine Übertreibung zu sagen, daß wir uns buchstäblich in die Arme flogen – wir hatten Glück, nicht über das wellenschlagende Linoleum zu stolpern.
    »Kannst du Auto fahren?« war

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