Neue Leben: Roman (German Edition)
gefeiert worden.
Erst auf der Rückfahrt nach der Premierenfeier brach die Wut aus Michaela heraus. Viel zu lange sitze sie schon in Altenburg fest, das Gerede, dieses Theater sei ein Sprungbrett, habe noch nie gestimmt. »Ich ertrage dieses Kaff nicht mehr!« schrie sie. Auf dem Gipfel ihrer Verzweiflung wollte sie sogar in die Partei eintreten, wenn das die Bedingung für ein Engagement in Berlin wäre. Die Hälfte ihrer Freunde am Gorki und im BE seien Genossen, alles Leute, von denen es niemand glauben würde.
»Wie wäre es denn mit
West
berlin«, fragte ich, als wir in unsere Straße einbogen. »Sofort!« rief Michaela und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Sofort!« wiederholte sie.
Zu Hause überreichte sie mir ein Paket, ihr Premierengeschenk. Es enthielt einige, immer kleinere Päckchen, die ich zu öffnen hatte, bis ich endlich eine in Goldpapier gewickelte Schachtel »Club« in Händen hielt – voller Pfefferminze. Aufdem Zettel, der darin steckte, las ich: »Rauchen schadet werdenden Müttern und Vätern.« So weit war es noch nicht, aber wir versuchten, uns das Rauchen abzugewöhnen.
»Fräulein Julie« erlebte fünf oder sechs Aufführungen. Michaela sah in der Tatsache, daß ihre »Julie« nicht im Anrechtsprogramm 251 lief, einen Akt der Zensur. Eine einzige Kritik war erschienen, ein Verriß auf der Lokalseite der LVZ.
Mit Beginn meiner Arbeit als Schauspieldramaturg waren mir anderthalb Zimmer bei der 88jährigen Emilie Paulini zugewiesen worden.
Mit ihr teilte ich das Trockenklo auf halber Treppe und die Küche, deren Waschbecken das Bad ersetzte. Dafür war der Keller voller Briketts. Ich brauchte dieses Refugium, weil Roberts Fernsehgewohnheiten und sein ununterbrochen laufender Kassettenrecorder mich regelmäßig vertrieben. Daß ich aber nur mit einem Tisch und einem Stuhl einzog, enttäuschte Emilie Paulini tief. Sie fürchtete sich nämlich, allein zu sein, »wenn es ans Sterben geht«. Abends einschlafen und nicht mehr aufwachen, so wollte sie es. Aber nebenan sollte jemand sein. Mir zu Ehren trug sie eine Perücke, die meistens schief wie eine Baskenmütze saß. In regelmäßigen Abständen winkte sie mich in ihre Stube, bat mich, Platz zu nehmen, und überreichte mir das gerahmte braunstichige Photo einer sehr schönen jungen Frau. Ob ich mir vorstellen könne, wer das sei. Sie kicherte, schob ihren Kopf mit der Perücke wie eine Schildkröte vor und sagte ganz laut: Na? Ich sah dann zwischen ihr und dem Photo hin und her und sagte schließlich: »Natürlich, Frau Paulini, das sind Sie!« Emilie Paulini kreischte, warf die Arme hoch und sprang auf, um mir sofort ein Stück Kuchen aus der Küche zu bringen.
Emilie Paulini mochte Michaela nicht, weil sie »eine vom Theater war« und obendrein schuld daran, daß ich nicht bei ihr wohnte.
Ihre Tochter Ruth kam mittwochs zu Besuch und holte sie sonntags zum Mittagessen ab. Ruth, die sehr schnell sprach und statt einer Pause zwischen den Sätzen ein hohes, gedehntes, mit dem Luftstrom absinkendes Aaah oder Neeeh ausstieß, hatte mir in der Küche erzählt (»Herr Türmer, was ich Ihnen erzählen könnte, Herr Türmer, aaah, dazu reicht unsre Zeit gar nicht aus, was ich – neeeh – so viel, so viel«), wie sie auf der Flucht im April 45 in Freital bei Dresden »den Russen in die Hände gefallen« waren. Ihre Mutter habe sie immer weggeschickt und aufgefordert zu singen. »Immer wenn Russen kamen, wurde ich singen geschickt. Aaah! Das sind Geschichten, Herr Türmer, Geschichten … Aaah! Dabei war unser Muttchen gar nicht mehr jung, hat aber nicht geholfen. Geschichten! Aaah, Herr Türmer. Sie ist schwanger hier angekommen, mit 43 schwanger! Neeeh, ohne Mann, stellen Sie sich mal vor!« 252 Ruth drückte sich ihr immer griffbereites Spitzentaschentuch in die Augenwinkel.
Mir hatte der Sinn dieses Singens nicht eingeleuchtet, da uns aber Emilie Paulini nie lang allein ließ, war ich erst Tage später dazu gekommen, Ruth danach zu fragen. »Aaah, Herr Türmer, das ist doch ganz einfach. Das hat sie beruhigt. Da wußte sie, daß sie wenigstens mich in Ruhe lassen. Aaah, neeeh, Geschichten!«
Es war Michaela, die vorschlug, aus den Erzählungen der beiden Paulinis ein Stück, einen Monolog zu machen. Für sie, Michaela, sei es natürlich besser, wenn Ruth das Ganze erzählte,aber auch ein Mutter-Tochter-Stück sei denkbar. Wenn es mir gelänge, die beiden zum Erzählen zu bringen, würde sich das Stück wie von selbst
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