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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Michaela. Sowenig ich auf Roberts Seite stand, so sehr wünschte ich ihm mitunter den Sieg. Denn eine Liebe hatte ich mir anders vorgestellt. 246 Außerdem wollte ich ja nicht hier bleiben, hier in Altenburg, hier in diesem Land. So schrieb ich es jedenfalls an Vera.
    Als mir Michaela strahlend verkündete, Robert habe eingewilligt, mit mir und ihr nach Dresden zu fahren, auch er wolle meine Mutter kennenlernen, hätte der Zwiespalt in mir nicht größer sein können.
    Meine Mutter hatte gebacken und gekocht, auf unseren Betten – Robert schlief allein in meinem Zimmer – lagen Lakritzstangen, wie ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, und Schokoladentiere. Die Handtücher waren neu und weich, undjeder bekam ein Paar Pantoffeln geschenkt. Robert schien nichts anderes erwartet zu haben. Während wir beim Kaffee saßen, streunte er durch die Wohnung, warf eine Vase herunter und sah in alle Schränke und Schubladen. Mutter fand nichts dabei und besänftigte Michaela. Sie rauchten um die Wette, und Mutter schenkte ihr dann die Schuhe, die sie ein halbes Jahr zuvor am Tag von Veras Ausreise gekauft hatte. Alle paar Minuten präsentierte uns Robert neue Entdeckungen. Er fand nicht nur meinen alten Teddy und die Kinderbücher, sondern auch meinen ersten Patronenfüller, dessen Kappe deutliche Nagespuren aufwies und mir so vertraut war, als hätte ich ihn eben erst aus der Hand gelegt. Zuletzt schleppte Robert den Zirkelkasten meines Großvaters an. Der blaue Samt, in dem die Zirkel eingebettet lagen, schimmerte. Robert fragte, ob er ihn behalten dürfe. Zu meinem Entsetzen stimmte Mutter zu. Doch Michaelas Nein war so entschieden, daß ich nicht einschreiten mußte. Danach waren die Photoalben an der Reihe, und am Abend schlug Robert sämtliche Eier in die Pfanne und nannte sein Gericht Omelett.
    Kurz vor unserer Abfahrt am nächsten Tag bestand Robert darauf, mit mir im Hof Federball zu spielen. Ja, allein mit mir. Auf der Rückfahrt schlief er ein, so daß sich Michaela zu mir herüberlehnen konnte. Ich habe eine Familie, dachte ich da zum ersten Mal, eine Familie, und wußte nicht, ob sich ein Traum erfüllt hatte oder ob ich in der Falle saß. 247

 
     
    Sonnabend, 19. 5. 90
     
    Liebe Nicoletta!
    Es wird Sie vielleicht erstaunen, wenn ich die anderthalb Jahre von unserem ersten gemeinsamen Wochenende in Dresden bis zum Mai 89 eine glückliche Zeit nenne. Der Zwiespalt, von dem ich schrieb, blieb bestehen, aber ich lebte nicht schlecht mit ihm. Den Antrag auf Ausreise zögerte ich hinaus, nein, ich sparte ihn mir auf wie eine Belohnung, die ich mir erst verdienen mußte. Je länger ich in der DDR aushalten würde, desto mehr hätte ich schließlich im Westen vorzuweisen. Zudem betrachtete ich das Familienleben als neue Erfahrung. Ich fühlte mich ausgezeichnet, wenn ich Michaela dabei zusehen durfte, wie sie ihre Beine rasierte, und empfand es als Vertrauensbeweis, wenn ich unsere Wäsche aufhängte oder von der Leine nahm.
    Zwischen Robert und mir blieb es anstrengend. Anerkennung fand ich bei Robert nur sporadisch, zum Beispiel wenn es mir gelang, die Tülle der Wäscheschleuder über dem Eimer zu halten. Dazu mußte ich mich mit meinem ganzen Gewicht auf die Maschine werfen. Meine Mutter hingegen wurde uneingeschränkt akzeptiert, weshalb wir oft nach Dresden fuhren.
    Das Studium beendete ich glanzlos. Ungewollt war ich wenige Monate vor meiner Verteidigung an den Rand einer Exmatrikulation geraten, weil ich ein Blatt mit »konkreter Poesie« an die Wandzeitung geheftet hatte. 248 So liberal, wie es manchmal schien, war die Universität doch nicht geworden.
    Nach der Verteidigung der Diplomarbeit, meiner letzten Aufgabe als Student, gingen wir – Michaela, Anton und ich – zum Wehrkreiskommando. Ich mußte mich abmelden, genauer gesagt: ummelden. Michaela hörte zu, als man mir mitteilte, als Fahrerhätte ich gute Chancen, bereits in zwei Jahren (das wäre jetzt) wieder eingezogen zu werden.
    Sowohl die Schulnovelle wie auch das Armeebuch gewannen durch diese Drohung für mich wieder an Kraft.
    Die Premiere von »Fräulein Julie« im September 249 war ein Reinfall. Als Flieder, von Michaela geführt, auf der Bühne erschien, gab es Bravo-Rufe, doch drei Viertel des Publikums warteten da bereits an der Garderobe. Wir erzwangen fünf Vorhänge, Michaela knickste jedesmal wie eine Operndiva und lächelte hinauf in die leeren Ränge. In Berlin wäre diese »Julie« wie »Dantons Tod« oder »Macbeth« 250

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