Neue Leben: Roman (German Edition)
Das hoffe ich zumindest. Schön, Enrico, daß du da bist.« Niemand lachte.
Außer Claudia Marcks saßen nur die Petrescu (Kristin, Köchin, 35 Jahre) und Max (Jean, Bedienter, 30 Jahre) am Tisch. Flieders Assistentin, eine hoch aufgeschossene junge Frau mit kurzen Haaren, die zugleich die Bühnenbildnerin war, hockte abseits auf der Lehne eines Stuhls, winkte mir zu und sog an ihrer »Karo«.
Was folgte, ähnelte eher einem Seminar als einer Probe. Undich war nicht vorbereitet. Mir schien, Flieder referiere allein für mich jenes Buch, das er an der Pforte mit einem Zettel versehen hinterlegt hatte. Dabei ging er auf und ab, kicherte und gewann mehr und mehr das Aussehen eines Fauns oder Satyrs. Seine Assistentin wiederholte, ergänzte, sprach von behavioristischer Verhaltensforschung und kniff bei jedem Zug aus ihrer Zigarette die Augen zusammen.
In der Mittagspause setzte sich Claudia Marcks neben mich. »Kennt ihr euch?« fragte Flieder.
»Ja«, sagte ich. Claudia Marcks sah mich an. »Woher kennen wir uns denn?«
»›Undine‹, Premierenfeier, genau an diesem Tisch.«
»Oh, bitte nicht«, rief sie. »Da bin ich so blau gewesen, so blau, o bitte, das tut mir leid!« Wie zur Entschuldigung legte sie eine Hand auf meinen Unterarm und fragte fast ängstlich, ob ich an jenem Abend auch Brüderschaft mit ihr getrunken hätte?
»Leider nicht«, sagte ich, »aber mit Ihnen hätte ich gern Brüderschaft getrunken.«
»Sag du«, flüsterte sie. »Einfach nur Michaela und du, ja?«
»Sehr gern, Michaela«, sagte ich, nannte meinen Vornamen und sah auf ihre wunderschöne Hand, die auf meinem Unterarm liegengeblieben war.
Ihr Enrico T.
Donnerstag, 17. 5. 90
Liebe Nicoletta!
Bevor ich Ihnen weiter von Michaela berichte, muß ich ein Erlebnis aus dem Sommer von 1987 einfügen, über das ich mit niemandemsprach, weil es mir nicht weiter erwähnenswert schien. Wie hätte ich es auch verstehen sollen?
Vielleicht gibt es ja etwas in uns jenseits des Bewußten oder Unbewußten, etwas, was jener Empfindungsgabe verwandt ist, die die Tiere ein Erdbeben oder Unwetter lange vor uns spüren läßt. Soll ich es Instinkt, soll ich es Ahnung nennen? Oder einfach nur ein besseres Sensorium?
Im August war ich für zwei Wochen nach Waldau gefahren, um endlich mit meiner Novelle voranzukommen. Eines Nachts erwachte ich und vermeinte zu hören, wie ein Schuß im Haus, im ganzen Wald nachhallte.
Wäre nicht das Knarren des Bettes gewesen, ich hätte mich für taub gehalten. Ich schnippte mit den Fingern. Kein Rascheln, kein Wind, kein Vogel. Ich schwitzte und wußte, daß ich nicht wieder einschlafen würde.
Nackt, wie ich war, trat ich hinaus vor die Tür. Alles schien erstarrt. Um jedes Geräusch, das ich machte, schloß sich die Stille nur um so dichter. Je angestrengter ich lauschte, desto undurchdringlicher wurde das Schweigen, bis ich es schließlich wie einen riesigen schwarzen Quader über meinem Kopf zu spüren glaubte.
Mehrmals versuchte ich durchzuatmen, aber die Luft, die ich in meine Lungen sog, schien diese nur halb zu füllen, als befände ich mich in mehreren tausend Metern Höhe. Auch im Sitzen wurde mir nicht besser. In der Herzgegend empfand ich ein Kräuseln, ein Strudeln. Ich wunderte mich, daß ich nicht in Panik geriet. Wenigstens konnte ich das tiefere Schwarz der Fichtenstämme von dem Graudunkel der Zwischenräume unterscheiden. Ich war kurz davor, ein Gebet zu sprechen oder ein Lied zu summen, nur um dieser Stille, diesem Schweigen zu entkommen. Plötzlich erschien es mir unglaubwürdig, daß ich da allein mitten im nächtlichen reglosen Wald saß, ich, dieeinzige Unruhe in einer stummen Welt. Ich glaubte zu träumen oder den Verstand zu verlieren. Ich erschrak vor meinem Lachen.
Und da, als gewährte man mir eine Gnade, gesellte sich eine Fliege zu mir. Sie umschwirrte meinen Kopf, und mir stand plötzlich eine Abbildung aus dem Physikbuch vor Augen: die Flugbahn des Elektrons um den Atomkern. 244
Die Fliege setzte sich auf meine linke Schulter – ich zuckte und hielt erschrocken inne. Hatte ich sie verscheucht? Die Fliege durfte mich nicht verlassen, sie sollte bleiben, das einzige Lebewesen, das mit mir wachte, meine einzige Gefährtin. Als ich sie wieder spürte, hielt ich still und genoß ihre Berührung wie eine Zärtlichkeit. Haben Sie je eine Fliege über Schulter und Rücken krabbeln lassen? Während ich fürchtete, von der Fliege über kurz oder lang im Stich gelassen zu
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