Neue Leben: Roman (German Edition)
ich mich, regelrecht stolz auf die Idee gewesen zu sein, unseren Kühlschrank auszuwischen. Allein die Vorstellung, mit dem Ausmisten eine ganze Stunde oder mehr verbringen zu können, erfreute mich. Ich drang bis in die hintersten Ecken vor, spürte halbleere verschimmelte Marmeladengläser auf, entfernte einen eingetrockneten Senfbecher von seinem ewigen Platz und leerte eine Wodkaflasche, die seit Monaten wegen eines winzigen Schlucks aufbewahrt wurde.
Am nächsten Tag nahm ich mir das Gewürzfach vor, dann die Schublade mit dem Besteck. Später ordnete ich auch das Geschirr neu und trennte unsere Teller von denen, die aus denHaushalten unserer Mütter stammten, die, weil sie kleiner als unsere waren, immer oben standen und hochgehoben werden mußten, wenn wir von unseren eigenen Tellern essen wollten.
Zwischen dem Saubermachen, Ausleeren und Wegschmeißen ging ich einkaufen. Eine angebrochene Flasche Bier trank ich nachmittags aus, um sie mit den anderen leeren Flaschen fortzuschaffen, achtete aber darauf, jedesmal mehr Flaschen einzukaufen, als ich weggebracht hatte.
Erst als ich den Toaster mit dem Staubsauger reinigte – eine Methode, die mir nach wie vor einleuchtet –, bemerkte ich an Robert einen gewissen Argwohn.
Da ich mich beobachtet fühlte, verschanzte ich mich in meinem Zimmer. Ich legte Schallplatten auf. Man sollte hören, daß ich hörte. Da aber die Platten, die ich besaß, mich mit Erinnerungen konfrontierten, denen ich mich nicht aussetzen wollte, kaufte ich neue Platten. Beinah wahllos griff ich zu, vor allem beim Jazz, denn Jazz hatte ich nie gehört.
Nach Michaelas Bemerkung, der deutsche Geist halte sich mal wieder an Musik, wurde mir klar, daß es nichts Unverfängliches mehr gab.
Im Theater hielt man mein Schweigen und meine Zurückhaltung für Radikalität. Michaela war bereit, mir eine Art Schonfrist einzuräumen, mir ein paar Wochen zu gewähren, in denen sie einfach durchhielt und weitermachte, ohne zu fragen. Anderen gegenüber sprach sie von Arbeitsteilung.
Abends im Bett war ich froh, wenn sie schnell einschlief. Manchmal drückte sie sich gleich mit dem Rücken an mich, zog meinen Arm über ihre Schulter und sagte: »Wie schön«, als brauchte ich nur Sicherheit und Bestätigung, um wieder zu mir zu kommen. Es gab aber auch andere Nächte.
Die Leute, die im Oktober bei uns klingelten und in der Mediengruppe mitarbeiten wollten, waren fast ausschließlich Männer,die selten ein zweites Mal auftauchten. Michaela und ich bekamen anonyme Briefe. Man drohte, uns die Masken vom Gesicht zu reißen, und beschuldigte uns der Demagogie und Volksverdummung.
Jeden Tag gab es irgend etwas Unerhörtes, und vielleicht sollte ich wenigstens das, woran ich mich erinnere, aufzählen, um Ihnen annähernd zu vermitteln, in welcher Situation wir uns befanden.
Aber ich muß endlich zum Schluß kommen und steuere deshalb schnell auf den 4. November zu.
Unser Antrag für die Demonstration war abgelehnt worden – wir hätten die Frist nicht eingehalten. Bewilligt wurde dafür eine Demonstration am Sonntag, dem 12. November. Der Haken war: Sie forderten von Michaela und mir die Unterzeichnung eines Schreibens, in dem wir versicherten, daß von uns am 4. November keine Demonstration »ausgehen« werde. Michaela reagierte, wie es wohl niemand erwartet hatte: Sie habe keine Probleme, sagte sie, das zu unterschreiben. Nur täten sich die staatlichen Stellen damit keinen Gefallen. Alle im Raum erstarrten und verfolgten dann, wie Michaela an den Schreibtisch herantrat, die Kappe von ihrem Füllfederhalter schraubte, sich über das Blatt beugte, unterschrieb und den Füller an mich weiterreichte, was dem Ganzen den Anschein eines diplomatischen Protokolls gab.
Zwei Tage später, als sie davon in der Kirche berichtete, habe es, erzählte sie triumphierend, Buhs und böse Zwischenrufe gegeben. Dann aber habe sie gesagt: »Entschuldigung, hier haben wohl einige nicht richtig hingehört. Ich habe gesagt: Von
mir
geht am 4. November um 13 Uhr vor dem Theater keine Demonstration aus. Seid ihr damit nicht einverstanden?«
Am Sonnabend, dem Vierten, fuhren wir gegen halb eins zum Theater. »Mein Gott, was haben wir angerichtet«, rief Michaela angesichts der Menschenmenge. Es war die größte Demonstration, die es je in Altenburg gegeben hat. Wer in Leipzig dabeigewesenist, hätte von zwanzigtausend Leuten nicht sonderlich beeindruckt sein sollen. Doch Altenburg war das Vertraute, zudem ließ die
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