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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Kleinstadt den Volkshaufen noch gewaltiger erscheinen. Obwohl Michaela sagte, sie und ich seien die einzigen, die heute nichts tun dürften, bahnte sie uns einen Weg zur Treppe des Theaters. Ganz oben hatten sich Schmidtbauer, der Prophet mit dem langen Bart und den großen Augen und Jörg wie drei Feldherren postiert.
    Und einmal mehr spürte ich in all dieser Fröhlichkeit, Aufregung und Erwartung, wie sehr ich zu einem Fremdkörper geworden war.
    Die Leute freuten sich an dem schönen Wetter, das ihnen der Herrgott wieder beschieden hatte. Mit dem Ein-Uhr-Schlag der Kirchenglocken wuchs die Unruhe, man sah zu uns herauf, man blickte sich um und wartete auf irgendein Zeichen. Rechts von uns begannen die Sprechchöre, und mit ihnen geriet die Menge in Bewegung. Die ersten zogen unter einem breiten Transparent los, doch nicht die Moskauer Straße hinauf, sondern links die Straße der Arbeitereinheit entlang. Ich wühlte mich – nur fort von Schmidtbauer! – quer durch die Menge zum Polizeiwagen, der die Straße zum Marstall sperrte. Neben Blond und Schwarz stand noch ein Dicker. Von ihrem Standort aus hatten sie gerade erst den Schwenk in die Arbeitereinheit bemerkt.
    Ich riet ihnen, zum Großen Teich zu fahren, wo der Demonstrationszug nach rechts in die Teichstraße einbiegen würde. Die Teichstraße kennen Sie ja, eine Ruine neben der anderen, das Sinnbild des Verfalls. Die Teichstraße müsse auch von oben her gesperrt werden, sagte ich.
    Die drei stimmten mir zu, und der Blonde fragte, ob ich mitfahren wolle. »Ja, bitte, kommen Sie mit«, rief der Dicke und quetschte sich nach hinten, während ich vorn Platz nehmen durfte. Mit Blaulicht bretterten wir durch die Frauengasse. Umam Brückchen abzubiegen, war es bereits zu spät. Erst zwischen Kleinem Teich und Kunstturm kamen wir wieder auf die Arbeitereinheit und rasten mit Tatütata auf die Kreuzung am Großen Teich. Ich versuchte, die drei zu beruhigen. Selbst wenn die Absperrung der Teichstraße von der anderen Seite her zu spät käme, sagte ich, könne der Wagen der Demonstration voranfahren. In Leipzig, belehrte ich sie, habe es nie Probleme gegeben. Der Blonde, der als Fahrer auch den Sprechfunk betätigte, blieb als einziger im Wagen, die anderen beiden sperrten die Kollwitzund die Zwickauer Straße, was Unsinn war, weil beide Straßen die einzige Umgehung für die lahmgelegte Innenstadt bildeten. Ich sagte es dem Blonden. Er nickte, griff nach seiner Mütze und eilte zu den anderen.
    In der mittäglichen Sonnabendruhe lehnte ich am Wagen und hörte auf die Sprechchöre.
    Und plötzlich lag sie da – eine Pistole. Genauer: ein weißer Ledergürtel mit Halfter und darin die Pistole, direkt vor der Fahrertür. Und genauso plötzlich wußte ich: Die ist für dich! Ich bückte mich, hob den Gürtel auf, nahm die Pistole heraus, schob sie ohne jede Eile in meinen Hosenbund und zog den Pullover darüber. Das leere Halfter beförderte ich mit einem Tritt unters Auto.
    Ich glaube, ich habe gelächelt, als erlaubte ich mir einen Scherz. Der Blonde kam, warf sich auf den Fahrersitz und rief irgendeine Bezeichnung in die Funksprechanlage, sah dann zu mir auf und sagte: »Alles balleddi.«
    Liebe Nicoletta, ich müßte längst in der Redaktion sein. 321 Fortsetzung folgt. Sehr herzlich, wie immer,
    Ihr Enrico T.

 
     
    Montag, 11. 6. 90
    Lieber Jo!
    Es tut mir so leid, daß Du es auf diese Art und Weise erfahren mußtest. Natürlich hätte ich derjenige sein sollen, der Dir von unserer Trennung erzählt. Ich habe es aber einfach nicht aufs Papier gebracht, als würde der Verlust erst dadurch endgültig, als gäbe ich damit den letzten Rest Hoffnung auf. Ich wollte hier mit Dir darüber reden, es sollte das erste sein, was Du von mir zu hören bekommst. Und dann läufst Du dem neuen Paar in die Arme … 322
    Jo, mein Lieber, was soll ich sagen?
    Letztes Jahr, in den Wochen, in denen ich lebendig beerdigt im Bett lag, mußte ich mit ansehen, wie Michaela an mir irre wurde. Obwohl ich leer und taub war, spürte ich doch mit jeder Faser, wie ihre Liebe zu mir aufgezehrt wurde, jeden Tag ein Stückchen mehr.
    Glaub mir: Als ich aus diesem Alptraum erwachte, war ich voller Hoffnung und voller Liebe. Und ich wußte, was ich zu tun hatte. Michaela hat nie verstanden, daß ich ihretwegen beim Theater kündigte. Ja, ich tat es für Michaela und Robert, für uns drei.
    Es war auf einem Spaziergang zu Beginn des Jahres gewesen, es hatte geschneit, und wir gingen zu dritt

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