Neue Leben: Roman (German Edition)
quer über die Felder, als ich plötzlich sah, wie wunderbar mein Leben sein könnte. Ich begriff, wie armselig, berechnend und lieblos mein ganzes Tun gewesen war. So wie bisher war es nicht länger möglich zu leben und nicht möglich zu schreiben. Anstatt meinen FigurenOdem einzuhauchen, hatte ich mein eigenes Leben unter dem Pesthauch der Kunst verdorren lassen. Das erkannte ich, als mich Robert – ein Splitter war mir ins Auge geraten – über das verschneite Feld führte. Ich wollte mich retten und damit auch Michaela, vor allem aber den Jungen. Ich hoffte, ein neues Leben würde uns glücken. Michaela und ich schliefen sogar wieder miteinander, und ich war mir sicher, daß sie bald schwanger werden würde.
In meiner Verzweiflung denke ich manchmal, Michaelas Liebe hätte nur ein paar Wochen länger reichen müssen, und wenn Barrista erst heute in der Stadt einträfe, würden seine Zauberkünste gar nichts mehr bewirken. Dabei bin ich es gewesen, der ihm den Boden bereitet hat, ich habe ihm Michaela regelrecht zugeführt. Solches Garn spinne ich in meinen schwarzen Stunden. Ich will es immer noch nicht wahrhaben, Michaela und Barrista! Er hat sie einfach überrumpelt. Er ist ja die Überrumpelung schlechthin!
Michaela sieht das natürlich anders. Ihrer Meinung nach gehorcht unsere Trennung einer inneren Notwendigkeit. Sie hat bis zur Selbstaufgabe um mich gekämpft. Und ausgerechnet ich lasse sie dann im Stich, übe Verrat an ihr und am Theater. Sie blieb allein zurück, mit dem Rücken zur Wand. Sie meint, wir wären schon kein Paar mehr gewesen, als der Baron auftauchte. Das stimmt natürlich nicht, wie so manches, was sie jetzt behauptet. Michaela sah sehr klar, was ihr die Verbindung mit dem Baron ermöglichen würde – und konnte nicht widerstehen. Er hat sie nicht nur gerettet, er verschafft ihr auch Genugtuung, vielleicht sogar Rache. Mit diesem Handstreich hat sie alle übertrumpft, nicht zuletzt mich. Von ihrer Höhe aus betrachtet bin ich nur einer dieser vielen täppischen Anfänger. Selbst ihre überlebensgroße Thea ist jetzt bloß noch eine von jenen, die gezwungen sind, sich für Geld auf der Bühne zu prostituieren. Michaelahat Dir sicher von der Flugschule erzählt. Sie spricht ja von nichts anderem mehr. Hoch über der Stadt zu kreisen, während alle anderen Erdenbewohner zur Arbeit kriechen, gilt ihr als Inbegriff des Triumphs.
Ihr schlechtes Gewissen jedoch macht sie reizbar, zumal Robert auf meiner Seite steht. Wahrscheinlich hat Michaela Dir von Nicoletta erzählt – jener Frau, die bei dem Unfall im März mit im Auto saß. Michaela hat Briefe von mir an sie gelesen 323 – und natürlich nichts Anstößiges gefunden. Allein die Tatsache, daß ich einer »wildfremden Frau« anvertraue, was ich ihr »verschwiegen« hätte, stilisierte Michaela zum Anlaß unserer Trennung hoch. Ach, Jo, ich wünschte mir ja, ihre Vorwürfe stimmten, dann würde ich die Trennung wahrscheinlich besser verkraften. Es ist so absurd. Ich weiß nicht einmal, ob Nicoletta einen Freund hat, ob sie allein oder mit jemandem zusammenwohnt und was sie von meinen Episteln hält, die ich ihr morgens schreibe, wenn ich nicht mehr schlafen kann. Nicoletta ist die ideale Person – zumindest jene Nicoletta, an die ich beim Schreiben denke –, der ich von früher erzählen kann. Ihr Bild vor Augen begreife ich, was mit uns passiert ist.
Nicoletta glaubte mir nicht, daß ich das Theater freiwillig verlassen hätte, um so ein Provinzblättchen zu machen. Ihre Vorstellungen von Schriftstellern und Künstlern ähneln jenen, die meine Mutter hegt – obwohl die ja die Welt jetzt »ganz sachlich« sieht. Zudem hat Nicoletta zehnmal mehr Marx und Lenin gelesen als wir alle zusammen. Sie ist nicht so wie Roland, Veras alter Verehrer, aber sie spricht immer noch von Ausbeutung und Kapitalismus, ja selbst Begriffe wie aggressiver Imperialismus oder »Militärisch-industrieller Komplex« (angeblich eine Bezeichnungdes ehemaligen US-Präsidenten Eisenhower) kommen ihr problemlos über die Lippen.
In ihrer Achtung bin ich rettungslos gesunken, als ich begann, »gemeinsame Sache« mit Barrista zu machen. Barrista ist für sie das Böse schlechthin. Ich versuche nicht, sie vom Gegenteil zu überzeugen, doch mein Ehrgeiz ist es, ihr klarzumachen, warum ich dieses Leben gewählt habe. Und das versteht nur, wer weiß, wie wir gelebt haben.
Ich rede wirklich nicht von Liebe. Dazu bin ich auch noch gar nicht in der Lage.
Außerdem,
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