Neue Leben: Roman (German Edition)
der Schmerz, desto kleiner die Leere. Erst wenn er ganz von mir Besitz ergriffen haben würde, wollte ich – als Krönung der Tortur – zum Zahnarzt gehen. Ich verlor mich regelrecht in den Details einer qualvollen Zahnbehandlung.
Wie einer, der fürchtet, im Schlaf bestohlen worden zu sein, und hastig seine Taschen abklopft, forschte ich beim Erwachen nach meinem Schmerz. Und war jedesmal erleichtert, ihn an seinem Platz zu finden. Und nicht nur das, er breitete sich aus,kroch und pockerte 346 den Kiefer entlang und stieß bis in den Hinterkopf vor. Er war eine Art Unterpfand für mich, die einzig verläßliche Größe.
Ich verwahrloste. Der Geruch, den ich, hob ich die Decke, an mir feststellen konnte, die langen Fingernägel, die Verpelzung der Zähne – ich nahm all das zur Kenntnis wie einen Defekt meiner Umgebung, wie eine kaputte Glühbirne, für die kein Ersatz im Haus ist. Als meine Bartstoppeln so lang waren, daß sie aufhörten zu piken, vergaß ich meinen Körper ganz. Das lag natürlich auch an meiner Müdigkeit, eine fortwährende Müdigkeit, in der Traum und Wachen oft ununterscheidbar blieben. In der Betrachtung ferner Städte und Schiffe fuhr ich fort. Es war bedeutungslos, ob ich dabei die Augen offenhielt oder schloß, es blieben dieselben Orte, in denen ich umherirrte, ohne selbst zu erscheinen.
Für Michaela und Robert sah es aus, als schliefe ich ununterbrochen. Wenn Michaela mir morgens Tee ans Bett brachte, legte sie die Hand auf meine Stirn. Sie gab sich Mühe, kochte mir Milchreis und bat Tante Trockel, Apfelmus für mich zu machen. Ich wollte das alles nicht, ich wollte nur Ruhe, ließ es aber über mich ergehen, als sei das mein Dank dafür, daß Michaela mir die Krankschreibung von Dr. Weiß zuerst für eine, dann für eine zweite Woche besorgt hatte.
Nach Ablauf der Frist quälte ich mich selbst in die Poliklinik. Es war Nikolaus, der 6. Dezember, ausgerechnet jener Tag, an dem Michaela und Jörg und ein paar andere die Villa der Staatssicherheit besetzt hatten, mittags ein Flugblatt druckten, es verteilten und Punkt 18 Uhr am Theater ihre Demonstration begannen. Michaela schien nun endgültig jene Energie, die mir fehlte, hinzugewonnen zu haben. In der halben Stunde, die sie nachmittags zu Hause war, hatte sie, meine Abwesenheit ausnutzend,die Bettwäsche in die Maschine gesteckt, es jedoch nicht mehr geschafft, die Liege frisch zu beziehen. Als ich mit einer erneuten Krankschreibung, diesmal gleich für zwei Wochen, zurückkehrte, fand ich mein Krankenlager aufgelöst, was mich wie ein Rauswurf traf. Ich verzichtete auf ein neues Laken, wühlte statt dessen meinen alten Daunenschlafsack aus dem Schrank, entrollte ihn auf der Liege, kroch in Unterwäsche hinein und zog mir die Kapuze über den Kopf.
Michaela war an diesem Abend außer sich. Ich konnte mich nicht erinnern, daß sie je mein Zimmer betreten hatte, ohne anzuklopfen. Sie stand plötzlich vor mir, ich hörte ihren Schlüsselbund und ihre Stimme, noch bevor ich die Augen geöffnet hatte. Sie redete nicht nur schnell. Jeder Satz erforderte drei oder vier weitere Sätze zu seiner Erklärung, die wiederum andere Sätze nach sich zogen, weshalb sie kaum zum Luftholen und Schlucken kam und immer hastiger sprach. Die eigentliche Zumutung bestand aber in der Erwartung, ich würde aufstehen, mich anziehen und mit ihr zur Demonstration zurückkehren.
Selbst wenn ich nicht krank gewesen wäre, hätte sie doch wissen müssen, wie wenig mich das alles anging, ja wie gleichgültig es mir war, ob an der Spitze eines Demonstrationszuges »Deutschland einig Vaterland« und »Wir sind ein Volk« skandiert wurde und ob irgendein Jörg oder Hans-Jürgen einen oder keinen Versuch unternommen hatte, »das zu unterbinden«.
Mit jedem Satz begriff ich von neuem, wie unfähig ich war, an diesem Leben teilzunehmen, wie sinnlos sich jede Anstrengung ausnahm.
Die Antwort auf Michaelas Frage, was denn der Arzt gesagt habe, fachte ihren Zorn von neuem an. Irgendwann verglich sie mich mit einer Raupe, einer fetten Raupe, was angesichts des Schlafsacks nicht sonderlich originell war. Das verstand ich als Ankündigung, sich fortan nicht mehr um mich zu kümmern.Ärgerlich war der darin versteckte Vorwurf, ich sei ein Simulant. Wie richtig ich die Situation eingeschätzt hatte, zeigte sich bereits am nächsten Tag, als Robert mich bat, ihm bei den Hausaufgaben zu helfen. Besonders setzten mir seine Bitten zu, ihn hierhin oder dorthin zu fahren. Was
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