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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Michaela früher meist aus pädagogischen Gründen verboten hatte, schien sie nun regelrecht anzuregen. Ja sie selbst quälte mich in den nächsten Tagen mit Wünschen, als hätte sie meinen Zustand vergessen.
    Das Zusammenleben mit den beiden wurde mehr und mehr zur Tortur. Eine Rückkehr ins Theater schloß ich aus. Vera war abgetaucht, von Geronimo trafen beinah täglich weitschweifige Episteln ein, die ich schließlich nicht mal mehr öffnete. Von dem Unglück, mit dem meine Mutter kämpfte, wußte ich damals noch nichts. Sie stellte die völlig unsinnige Behauptung auf, Vera sei schuld an meinem Zusammenbruch. Michaela wiederum nahm stundenweise das Leid der Welt auf ihre Schultern und fühlte sich für meine Verwahrlosung verantwortlich, bis ihr wieder der Geduldsfaden riß. Hartnäckig verteidigte ich meinen Schlafsack gegen sie, ließ jedoch zu, daß sie die Liege mit einem Laken bezog.
    Wie gesagt, mein damaliger Zustand ist mir heute selbst fremd. Ich berichte davon wie einer, der Gehörtes eher schlecht als recht wiederholt.
    Dann geschah es. Es geschah einfach. Haben Sie schon mal Küchenabfälle in einer Papiertüte gesammelt? Und wenn man die Tüte am nächsten Tag in die Hand nimmt, sackt der ganze Mist durch. Plötzlich war das Entsetzen da.
    Aber was sagt dieses Wort schon! 347 Ich hatte plötzlich begriffen, was mir widerfahren war und wie es um mich stand.
    Ach, Nicoletta! Das vollkommene Verschwinden des Herrn Türmer ist schwer faßbar. Sie können es natürlich auch den Verlust des Schreibens nennen oder, um genauer zu sein, den Verlust des Westens, den Verlust unseres Jenseits, den Tod der gütigen Götter … Damit hätte sich, wenn Sie sich erinnern, der Kreis meiner Betrachtungen eigentlich geschlossen.
    Andererseits haben meine Schilderungen, wie ich hoffe, vielleicht erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, das Folgende zu verstehen.
    Doch davon nicht mehr heute.
    Ihr
    Enrico Türmer

 
     
    Sonntag, 1. 7. 90
     
    Lieber Jo!
    Übermorgen kann ich einziehen, sofern der Baron keine Beanstandungen hat. Ich habe eine neue Matratze bestellt, dank Monte Carlo das Beste vom Besten. 348 Alles andere hat Zeit.
    Vera kommt mit dem Zug, zwei Koffer hat sie angekündigt.
    Die neue Familie ist an die Ostsee geflogen, nach Dänemark, das erleichtert manches. Keiner weiß, wie sich der Baron die Genehmigungen für seine Fliegerei verschafft und wie er die Russen herumbekommen hat. 349 Mich würde es nicht mal mehr wundern,wenn er bald eine MiG-29 fliegt. Für DM ist alles zu haben. Der Baron macht schon große Pläne für die Zeit, wenn die Russen einmal weg sein werden: Von Altenburg-Nobitz mit Sonderangebot nach London und Paris! Ihm ist alles zuzutrauen.
    Als ich am Freitag aus dem Auto stieg, glaubte ich, Möwen gesehen zu haben, Möwen in der Stadt! Leider war es nur Papier, aller möglicher Zettelkram wirbelte herum und trieb mir auf dem Fußweg und der Straße entgegen. Ich blieb für einen Moment stehen und sah den Blättern nach, die auf die Parkplatzbrache, den Hang hinunterflatterten, über die Autodächer tänzelten, dann an der Ziegelmauer oder im Maschendraht landeten. Auf eins war ich sogar getreten und hatte überlegt, ob es lohne, sich wegen der Büroklammer daran zu bücken. Ich war weitergelaufen – um einen Augenblick später auf dem Absatz kehrtzumachen und verzweifelt wie ein Kind den weißen Vögeln nachzujagen. Marions aus dem Fenster gellende Stimme hatte mich aus meinem Traum gerissen. Schreiend stürzten Evi, Mona und Frau Schorba aus unserem Eingangstor.
    Frau Schorba versuchte die auf der Straße treibenden Blätter zu fangen. Sie schrie in regelmäßigen Abständen auf, wenn das verfolgte Papier in letzter Sekunde ihrem Zugriff entkam. Inzwischen beteiligten sich auch Ilona und Fred an der Jagd. Wie Treiber durchkämmten wir den Parkplatz. Den Großteil der entfleuchten Anzeigenvorlagen konnten wir an Mauer und Zaun auflesen. Evi erklomm und übersprang den Zaun, um Rüdiger-Bajohr-Finanzen und Noëlle’s Bücherstube aus den Büschen zu pflücken. Mona kroch unter jeden Wagen und zog hinter meinem Vorderrad den Kopierservice hervor.
    Ilona und Fred inspizierten Jüdengasse und Markt, während wir anderen Frau Schorba zu Hilfe eilten. Die hatte ihre Taktik geändert, trippelte nun den Blättern hinterher und knallte mit dem Ausruf »Miststück!« ihre Hacken aufs Pflaster. Spätestensnach dem zweiten oder dritten »Miststück!« war die Anzeige gerettet. Die Autos, zum

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