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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Direktrice eine Stunde die Front dieser Bilder ab, bis er bei Massimo ankam, den er »unseren tapferen Thermopylenkämpfer« nannte.
    Diejenigen, die auf den Erbprinzen gewartet hatten, wichen vor ihm wie vor einer Erscheinung zurück.
    Massimo bat für einige »Unglückliche«, die sich nicht auf Sonntag hatten vertrösten lassen, um eine Signatur des Erbprinzen in Georgs Reprint.
    Ich schreibe Dir jetzt nichts über den kleinen Ausflug mit Nicoletta, nichts über die Ankunft unserer ersten Ausgabe aus Gera, nichts über all die Vorbereitungen, die bis zur letzten Minute, ja bis zum Beginn des großen Empfanges noch notwendig waren.
    Ah, Madame Türmer ist erwacht … Gestern, vor dem Empfang, verbrachte sie eine Stunde oder länger damit, eine sogenannte Feuchtigkeitscreme von der Stirn bis zu den Zehen aufzutragen, und verwandte so viel Sorgfalt darauf, als hätte man sie bei Lebensgefahr beschworen, ja keine Pore zu vergessen. Überhaupt verschönt der Westen die Frauen, ich sehe es an Vera, ich sehe es bereits an Michaela und auch an meiner Mutter. Jene Fältchen, die sich um ihren Mund eingenistet hatten und ihn wie einen Sack zuzuschnüren drohten, scheinen verflogen.
    Aber jetzt zum Empfang:
    Zehn vor sechs trug ich mit Andy den Erbprinzen hinauf – wir hatten die Haupttreppe für uns, die geladenen Gäste saßen seit fünf Minuten auf ihren Plätzen. Olimpia überwachte die Tür zum Bachsaal.
    Während ich rätselte, ob der Prinz selbst ein Parfüm benutzt hatte oder der Duft einfach hängengeblieben war, riet uns der Baron, keinen Alkohol zu trinken, auch während des anschließenden Essens, um bis zuletzt die volle Konzentration zu bewahren. Cornelia, die für die ganze Veranstaltung der Maître deplaisir war, hatte für uns Sektflaschen mit einer Mischung aus Wasser und Apfelsaft präpariert.
    »Laßt euch durch nichts verblüffen und habt keine Angst«, ermahnte der Baron Vera, Michaela und mich. »Gleichgültig, was geschieht, was gesagt wird, was ihr hört, gleichgültig, ob euch die Leute gefallen oder nicht, ihr müßt zu allen, zu ausnahmslos allen liebenswürdig sein. Ihr müßt daran glauben, daß sie euch am Herzen liegen. Nach nichts sehnen sich diese Menschen mehr als nach eurer Gunst. Sie gieren regelrecht nach eurem Blick, eurem Lächeln, eurem Nicken. Fragt Cornelia.«
    »Clemens, Clemens, was erzählst du da nur!« seufzte der Erbprinz und bot den Frauen an, sich jederzeit auf seinen Rollstuhl zu stützen.
    Michaela bekämpfte ihr Lampenfieber mit Atemübungen. Auf mich wirkte ihre Nervosität, vor allem aber die Aufgeregtheit des Barons, geradezu beruhigend. Vera erging es ähnlich.
    Dann begann es sechs Uhr zu schlagen. Der Baron und ich traten an die kleine Flügeltür. Das Gemurmel im Saal erstarb, ich hörte nur noch Rascheln. Vera und Michaela richteten sich auf – und da sah ich es: Beider Kleider waren durchsichtig oder besser: durchscheinend. So gediegen die Stoffe aus der Nähe wirkten – ein paar Schritte Abstand reichten, und die Verhüllung gab Brüste, Rippen, Scham in einer Deutlichkeit preis, wie es purer Nacktheit nie gelungen wäre.
    »Türmer«, zischte Barrista. Ich hatte die Schläge der Uhr nicht mitgezählt.
    Es war so still, als wären wir allein im Schloß. Kurz nacheinander begannen die Kirchen ihr Sechs-Uhr-Läuten. Ich dachte, daß ich einmal die Reihenfolge herausfinden müßte, in der die Glocken einsetzen, und daß deren Beschreibung auch ein schöner Romanbeginn wäre, weil dabei ganz ungezwungen die Topographie der Stadt mitentstünde.
    Als der Baron nickte, öffnete ich, wie wir es geübt hatten, mit einer Vierteldrehung das Türschloß. Synchron zogen der Baron und ich die Türflügel auf, die Musik setzte ein. Vera und Michaela lächelten und schoben den Erbprinzen an uns vorbei in den Saal, in dem sich die Gäste erhoben und applaudierten.
    In eingeübter Schrittfolge schlossen wir hinter uns die Tür. Michaela schwenkte ihren Hintern, als gäbe sie die Dirne im Freilichttheater. Mutter und Robert, ihre Gesichter waren vor lauter Begeisterung fast verzerrt, klatschten frenetisch. Vom Erbprinzen sah ich nur die aneinandergelegten Fingerkuppen.
    Der Applaus wollte nicht enden. Erst als der Baron und der Bürgermeister dem Publikum Zeichen gaben, setzte man sich endlich. Hinten rechts, vor dem Orchester, sah ich unsere Zeitungsredaktion und Georgs Familie, links, zur Tür hin, erkannte ich Olimpia und Andy, Cornelia und Massimo, Recklewitz samt Familie,

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