Neue Leben: Roman (German Edition)
steht noch das Kaffeegeschirr von gestern. Das Obst und die Blumen, für beides sorgt Vera im Übermaß, duften. (Vera, der die Vögel zu laut sind, schläft bei geschlossenen Fenstern bis Mittag.) Sämtliche Stühle und Korbsessel, die uns Andy überlassen hat, sind mit Veras Klamotten belegt, als wolle sie ihr Territorium markieren. Michaela ist auf Vera eifersüchtig, nicht ohne Grund. Seit Veras Ankunft verzieht sich Barrista ständig »auf die Baustelle«, womit allerdings unsere Veranda gemeint ist, auf der er Zigarren raucht und sich von Vera »Drinks« servieren läßt (das Geläut der Eiswürfel schreckt Astrid auch aus dem tiefsten Schlaf, sie ist ganz närrisch auf Eis). Selbst in Michaelas Anwesenheit spricht Barrista mit Vorliebe von zurückliegenden Abenteuern, und auch das nur in Andeutungen, deren eigentlichen Sinn wohl nur Vera versteht.
Verläuft alles nach Plan, werde ich heute gegen neun zum ersten Mal unsere Zeitung im Briefkasten haben. Halb zehndann große Frühstückstafel im Garten, zu der unser Erbprinz erwartet wird. Hier kann er seinen Tee mit Blick auf jene Fenster genießen, hinter denen er früher erwacht ist. Robert wird neben ihm sitzen. Der Erbprinz nennt ihn seinen jungen Freund, unsere Mutter spricht er zuweilen mit »verehrte, liebe Freundin« an. Das Geld, das ihr der Baron für die Betreuung des Erbprinzen anbot, hat sie zurückgewiesen. So hinfällig, wie der Erbprinz mitunter erscheint, ist er gar nicht. Sonst hätte er kaum das gestrige Programm überstanden.
Auch von Dir und Franziska war schon die Rede! Am Freitag haben sie in Eurer Wohnung alle nichttragenden Wände herausgenommen. Du wirst für den Neuanfang weniger Mut brauchen, als Du denkst. Gotthard Pringel wird Dir bei allem zur Hand gehen (sein Pseudonym habe ich inzwischen wieder abgeschafft). Und Robert kann es kaum erwarten, Gesine etwas auf dem Klavier vorzuspielen.
Jo, mein Lieber, ich kann Dir nicht alles schildern, zumindest jetzt nicht. Der Vormittag im Museum, die Inthronisierung der Madonna, wäre eine eigene Geschichte, zumal plötzlich Nicoletta erschien. 367 Sie wollte mich überraschen. Das Museum hat sie bis auf weiteres als Photographin engagiert, um ihr so wenigstens einen Teil der Ausgaben zu erstatten, die sie wegen ihrer Recherchen in Sachen Altar hat. Da standen sie also plötzlich zusammen: Nicoletta, Vera und Michaela. Und was tat ich? Ich stritt mit der Museumsdirektorin herum, weil die mysteriöse Madonna aus dem Pfarrhaus nicht am Eingang der »Italiener-Sammlung« aufgestellt worden war, wo sie vereinbarungsgemäß hätte stehen müssen – und wie es in unserem Bericht nachzulesen ist –, sondern am Ende der Galerie. Die Gründe der Direktrice interessiertenmich nicht. Und sie ließ sich durch nichts erweichen. Selbst als der Baron, der die Sache gelassen nahm, mir einen Mann vom Landratsamt zu Hilfe schickte, der für das Museum weisungsberechtigt ist, blieb sie stur. Eher wolle sie ihren Posten zur Verfügung stellen, als sich Anordnungen dieser Art zu beugen. Der Baron schlichtete, so gut es ging. Wir werden »unser Versehen« in der nächsten Ausgabe berichtigen – oder auch nicht. Sollen doch alle fragen, wieso die Madonna nicht am Eingang steht.
Eine junge Frau spielte Cello, dann Reden, Reden, Reden, jedesmal Freude und Jubel über den Erbprinzen und Dank an Barrista und die Zeitung. Wieder Cello. Die Leute quatschten die ganze Zeit, Nicoletta verschoß Film auf Film. Sie raunte mir zu, ich solle nicht so ein Gesicht ziehen, sonst könne sie die Bilder nicht verwenden.
Als der Erbprinz, geführt von der Direktrice, seinen Rundgang durch die Sammlung begann, schnappte sich Massimo kurz entschlossen zwei Aufsichtsmänner, zog sie am Ärmel ihrer hellblauen Jacketts vor den ersten Durchgang und postierte sich selbst hinter diesem lebenden Schild, die Mundwinkel tief nach unten gezogen.
Während die Leute immer lauter »Hoheit« riefen und dem versteinerten Massimo erklärten, was sie dem »Herrn Erbprinzen« schenken oder zeigen wollten, wurde ich Zeuge eines kleinen Wunders.
Vor den Tafeln des Guido da Siena schlug der Erbprinz die Decke beiseite, stützte sich auf die Armlehnen, erhob sich aus eigener Kraft und machte einen Schritt auf die Tafel zu. »So ein Wiedersehen«, sagte er.
Jede Tafel war ein Wiedersehen! Es gab keine, vor der er nicht verweilte, zu der ihm nichts einfiel. Als Jugendlicher habe er ganze Wochen hier verbracht.
So schritt der Erbprinz am Arm der
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