Neue Leben: Roman (German Edition)
Proharsky mit Frau.
Marion hätte ich wohl ohne Jörg an ihrer Seite gar nicht wahrgenommen. Ihr Gesicht war bleich und schien mir irgendwie verändert. Wahrscheinlich stand sie unter Medikamenten.
»Danke«, rief der Erbprinz, »vielen, vielen Dank für Ihr Willkommen.« Karmeka, der über den Handrücken seiner Linken strich, als kreme er sie ein, holte tief Luft und begann seine Begrüßung mit einem Exkurs über den Spruch »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«. Ich war in meinem Bericht nicht auf den Inhalt seiner Rede eingegangen, insofern konnte es mir gleichgültig sein, was er sagte, nur – er hörte nicht mehr auf. Im Programm stand: 2. Kurze Begrüßung durch den Bürgermeister, 3. Musik (das Lieblingsstück des Erbprinzen, Mozarts »Kleine Nachtmusik«), 4. Ansprache des Bürgermeisters.
War das noch Begrüßung oder schon Ansprache? Der Dirigent – der Ärmste heißt wirklich Robert Schumann – observierteuns mit gerecktem Hals, jederzeit bereit, herumzufahren und den Auftakt zu schlagen. Immer wenn ich schon glaubte, Karmeka komme zum Schluß, warf er seinen Kopf für eine neue Volte wieder nach oben. Nach einer Viertelstunde näherte er sich mit Danksagungen dem Ende. Dieser Dank galt allen, der Stadt- und der Schloßverwaltung für ihre unermüdliche Arbeit, und besonders seinem Adepten, dem Herrn Fliegner. Barrista und mich erwähnte er mit keiner Silbe. Das war ein Affront, egal wie man es drehte. Warum sagte er nicht, daß der ganze Besuch die Stadt keinen Pfennig gekostet hat? Nichts haben sie dafür getan, gar nichts!
Soll er reden, tröstete ich mich. Wir achten schon darauf, daß die Wahrheit keinen Schaden nimmt. Dem Baron jedoch gelang wieder ein Meisterstück. Er applaudierte auf eine so aufrichtige Weise, daß der Bürgermeister sich bemüßigt fühlte, seine Hand zu ergreifen und nun auch ihm zu danken. Für das Photo dieser Geste bedarf es keiner Bildunterschrift mehr.
Robert Schumann schlug den Takt, und die »Kleine Nachtmusik« beendete den Beifall. Danach sprach der Erbprinz. Seine Rede kannst Du bei uns nachlesen.
Als er beschrieb, wie verloren er sich mitunter fühle – in Altenburg jedoch werde ihm so viel Herzenswärme entgegengebracht, sprang Marion auf. Sie blieb stumm, als ginge es ihr um eine bessere Sicht. Auch ließ sie sich widerspruchslos von Jörg zum Hinsetzen bewegen. Doch was hielt sie da in Händen? Mir stockte der Atem! Unser Sonntagsblatt mit dem Bericht über den Empfang, der gerade stattfand! Jörg hatte uns zu der neuen Zeitung gratuliert und war voller Anerkennung gewesen, weil wir gleich mit 24 Seiten und noch dazu im großen Format starteten. Hätten wir sie denn vor ihm verstecken sollen?
Ja, wir hätten sie vor ihm verstecken müssen. Diese Unachtsamkeit rächte sich jetzt. Marion mußte nur unser Sonntagsblattweitergeben, es von Hand zu Hand durch die Reihen wandern lassen, um uns ein für allemal lächerlich und unglaubwürdig zu machen. Mir brach der Schweiß aus.
Massimo saß, statt sich um unsere Sicherheit zu kümmern, mit verschränkten Armen und froschigem Grinsen zurückgelehnt da und schmatzte wahrscheinlich wieder leise vor Behaglichkeit. Hatte es keiner außer mir bemerkt? Sollte ich einen Feueralarm auslösen? Der hätte aber auch nicht im Blatt gestanden. Wir würden die Ausgabe zu einer Art Probenummer erklären. Besser, zehn- oder fünfzehntausend D-Mark gingen verloren als unser Renommee. So wäre meine Entscheidung ausgefallen, hätte ich sie in jenen Sekunden treffen müssen. Auf mein entgeistertes Gesicht spielte der Baron später an, als er sagte, seine Ermahnungen seien keinesfalls so überflüssig gewesen, wie ich wohl geglaubt, aber leider auch nicht so wirksam, wie er es erhofft habe.
Die geringste Bewegung im Publikum schien mir ein Indiz dafür, daß die Zeitung bereits die Runde machte. Um ein Haar wäre ich mitten in der Musik aufgesprungen, weil ich die Ungewißheit nicht mehr ertrug.
Robert Schumann verbeugte sich – und verbeugte sich dann noch einmal vor Michaela und Vera.
Da ich Georgs Rede zweimal Korrektur gelesen hatte, wußte ich ziemlich gut, wie lange ich auf die Folter gespannt würde. Ich will es nicht aufbauschen, doch als das lange Schlußzitat begann, hätte ich am liebsten vor Erleichterung die Augen geschlossen. Vera und Michaela schoben den Erbprinzen Georg entgegen, so daß sich einer beim anderen bedanken und Georg ihm diesmal offiziell das Buch über die Herzöge von Sachsen-Altenburg
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