Neue Leben: Roman (German Edition)
verschwand in der behaarten Hassensteinschen Pranke. Sein Vater, der die Kohlehandlung Benndorf & Hassenstein 1934 mitbegründet habe, sei kurz nach der Enteignung 1971 gestorben. Hassenstein zog die Nase mehrmals hoch, eine Träne rann ihm bis zum Kinn.
Ich stellte das Ehepaar Offmann vor, Möbelhaus Offmann in dritter Generation, gegründet 1927, Roswitha Offmann und Klaus Kerbel-Offmann.
Du wirst sie alle kennenlernen, in jeder dieser Familien steckt ein Roman. Doch wer sie auch immer sein mögen, mir kam es vor, als schlössen sie in jenem Moment, da sie vor den Erbprinzen traten, einen Vertrag mit uns. Zuvor waren sie vielleicht aufgeregt gewesen, hatten sich dies und das vorgestellt, aber keiner hatte wohl geahnt, wie sehr sie die Begegnung mit dem Erbprinzen erschüttern würde. Als sie ihm die Hand reichten, brach etwas in ihnen auf – und was immer es auch war, es überraschte sie und band sie an uns.
Selbst Pfarrer Bodin, der wegen der Horoskope im »Wochenblatt« gegen uns gewettert hatte, befeuchtete seine tüllenförmige bläuliche Unterlippe und sah uns erwartungsfroh wie ein Kind an, als er an der Reihe war. Pfarrer Mansfeld, der katholische Berserker, der heute noch seinen großen Auftritt als Bonifatius haben wird, ließ es sich nicht nehmen, dem Erbprinzen eineFlasche Kräuterlikör zu schenken, und flüsterte mir nach seiner Audienz zu, auch für uns halte er hochprozentige Präsente bereit.
Piatkowski, der CDU -Bonze, der nun doch wieder unter den Stadtverordneten sitzt, hatte seine Frau geschickt. Die genoß den Empfang und sprach so heiter und herzlich, ja regelrecht charmant mit dem Erbprinzen, daß dieser sich später nach ihr erkundigte.
Düster und am Rande des Eklats war der Auftritt der Frau vom Galluswirt. Sie machte einen großen Knicks, landete, beabsichtigt oder nicht, auf den Knien und rief: »Es war Freitod! Eure Hoheit! Es war Freitod!« Ich wußte nicht, daß der Galluswirt vor drei Tagen Selbstmord begangen hatte. Während der Baron sein Beileid bekundete und ich den Erbprinzen über die frühere Bedeutung des Galluswirtes aufklärte, rief sie immer wieder: »Es war Freitod! Eure Hoheit! Es war Freitod!«
Von denen, die ich auf die Liste gesetzt hatte, waren bis auf Ruth, die Tochter meiner Wirtin Emilie Paulini, Jan Steen und den Gießener Zeitungschef, der sich aber entschuldigen ließ, alle gekommen.
Froh war ich, daß Wolfgang, der Hüne, und seine Frau erschienen. Wie oft wollten wir uns schon treffen! Nun werde ich sie mit Vera besuchen. Auch Blond und Schwarz, zwei Polizisten, kamen. Wir haben uns im Herbst kennengelernt.
Im Saal wurden schon Häppchen, Sekt und Orangensaft herumgereicht, als Marion und Jörg ihre Karten vorzeigten.
Ich glaubte, die Selbstbeherrschung des Barons sei der Grund für die Liebenswürdigkeit, mit der er auch die beiden begrüßte. Denn daß er die Zeitung in Marions Händen nicht erkannt hätte, schien mir unwahrscheinlich. Marion ließ all ihre unterdrückte Aggressivität an dem zusammengerollten Sonntagsblatt aus, eine Geste, die sich mit »den Hals umdrehen« am besten beschreibenläßt. Dann starrte sie das Werk ihrer Selbstvergessenheit an und versuchte das Papier zu glätten. Jörg strich Marion mit dem Handrücken über die Wange. Um es kurz zu machen: Der Baron stellte die beiden vor. Jörg begrüßte den Erbprinzen mit »Eure Hoheit« und verneigte sich tief vor ihm. Dann trat er zur Seite und überließ Marion das Feld. Die beugte sofort wie ein Opernheld ein Knie und hielt dem Erbprinzen die Zeitungsrolle hin. »Schauen Sie selbst. Ich weiß nicht, warum so etwas getan wird. Aber alle ändern plötzlich ihre Biographie. Niemand spricht mehr die Wahrheit«, sagte sie monoton und mit tiefer Stimme. Es folgten noch ein paar Sätze dieser Art, völlig absurdes Zeug. Und natürlich teilte sie dem Erbprinzen mit, warum sie dem »Herrn Türmer« verboten habe, sie zu duzen, denn der sei ein Betrüger und gänzlich verblendet. Sie jedoch, Marion Schröder, lehne es ab, für mich, diesen Schatten, zu beten.
Der Erbprinz streckte die Hand aus, er wollte, daß sie aufstand – der halbe Saal glotzte bereits. Sie mißdeutete das. Schnell wie ein Vogel, der nach etwas pickt, küßte sie seine Hand, erhob sich und rief: »Sehen wir uns also bald!« Jörg folgte ihr, holte sie kurz vor der Tür ein und schlang den Arm um ihre Schulter.
Am meisten überraschte mich Kurt. Ich hatte ihn für Mitte Fünfzig gehalten, aber Kurt ist erst
Weitere Kostenlose Bücher