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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Firmen aus der BRD haben sich in Südafrika etabliert. Ein Viertel der Investitionen Südafrikas stammen aus dem Ausland.«
    »Sehr gut. Jetzt aber mal aktuell!«
    »In der italienischen Öffentlichkeit nehmen die Protestaktionen gegen die USA -Pläne zur Produktion der Neutronenwaffe weiter zu. Mit einem Protestmarsch verurteilten am Dienstag inRom Tausende Einwohner der Hauptstadt diese Absichten als einen aggressiven Schritt, der den Frieden der Mensch…«
    »Undsoweiterundsofort«, rief Dr. Bartmann.
    »Neue Mietpreiswelle in der BRD . Aufgrund gestiegener Baupreise von bis zu 20 Prozent muß …«
    »Etwas anderes, etwas anderes!«
    »Mehr Banküberfälle in der BRD !«
    »Nein!«
    »Dem Gedenken an Wassili Schukschin ist ein 8000-Tonnen-Frachter gewidmet …«
    »Njet, njet, njet.« Dr. Bartmann akzeptierte die erneuten machtvollen Streiks in Italien, winkte aber ab bei den Folterungen in Belfast, der neuen Phase des Raketenbaus in der BRD , dem befristeten Waffenembargo gegen Südafrika und der Giftbombe für die USA -Marine.
    Erst bei den Reaktionen auf den Panama-Kanal-Vertrag nickte Dr. Bartmann wieder und drehte sich dabei kurz um, als wollte er sehen, wie viele Plätze es noch bis zu Joachim waren, der das letzte Mal »Besucherrekord auf der Burg Stolpen« vorgeschlagen hatte, was Dr. Bartmann ihn hatte begründen lassen. Und Joachim hatte einen Kurzvortrag über das Geschichtsbewußtsein gehalten, das sich nicht immer nur auf die jüngste Vergangenheit beziehen dürfe, sondern die Erfahrungen aller Epochen benötige, und Dr. Bartmann hatte den Besucherrekord gelten lassen.
    Es war dann nicht deutlich, auf wen Dr. Bartmann gezeigt hatte, jedenfalls sagte Joachim: »Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe sind am Donnerstag, den 27. Oktober auf dem Dornhaldenfriedhof in Stuttgart beigesetzt worden.«
    Dr. Bartmann lächelte. »Das Thema hatten wir doch schon letzte Woche. Ist es denn so wichtig?« Dr. Bartmann erinnerte an Lenin, daran, daß Linksradikalismus die Kinderkrankheit desKommunismus sei und welchen Schaden sie der Sache des Proletariats zufüge.
    Statt Titus aufzurufen, nickte Dr. Bartmann bereits Peter Ullrich zu, der in der Bank vor ihnen saß. Titus schossen Tränen in die Augen. Am liebsten hätte er losgeheult.
    Peter Ullrich sprach von unterirdischen Kernexplosionen in Nevada und Panzerabwehrraketen für Großbritannien. Es war lächerlich, in Tränen auszubrechen, nur weil Bartmann ihn übergangen hatte. Wie sollte er denn je eine Entscheidung treffen, wenn er windelweich war wie ein Kleinkind?
    Er fürchtete sich vor der Pause, vor den fünf Minuten bis zum Beginn der Russischstunde. Er hatte gesagt, was er sagen wollte. Wenn Joachim das nicht begriff, wenn er immer noch glaubte, er würde ihm statt seiner Mutter folgen …
    »Erstens«, diktierte Dr. Bartmann, »ein elektronisches Rechenzentrum des Systems EC 1040 des Kombinates Robotron wurde in Havanna übergeben, KOSMOS 962 wurde gestartet. Zweitens hat die Abwerbung ägyptischer Wissenschaftler durch westeuropäische Staaten und die USA ein bedrohliches Ausmaß angenommen. 70 Prozent der Studierenden kehren nicht in ihre Heimat zurück.«
    Es blieben noch zwanzig Minuten für den regulären Stoff.
     
    [Brief vom 28. 6. 90]
    Titus schlug im Hefter nach vorne und notierte zum zweiten Mal das Datum: 31. 10. 1977.
    Dr. Bartmann schrieb an die Tafel. 9.1.2. Das Wesen der kap. Gesellschaftsordnung. 9.1.2.1. Das Wesen der kap. Ausbeutung. Es folgten zwei Spalten, links Kapitalisten, rechts Arbeiterklasse.
    Von nun an kam nur noch dran, wer sich meldete; meldete sich niemand, gab Dr. Bartmann die Antwort selbst. JoachimsKurzschrift hielt nicht nur das Tempo von Bartmann, sondern überholte ihn am Ende einer jeden Passage.
    »Das Ziel der kapitalistischen Produktion besteht in der Gewinnung des höchstmöglichen Mehrwertes, also des Profits, durch Verschärfung der Ausbeutung.« In einem Kästchen erschien »angeeigneter Profit«, von dem wiederum links und rechts ein Pfeil abging. Links: für persönliche Zwecke/luxuriöses Leben; rechts: Kapital für den Ankauf neuer Maschinen, damit ständig mehr Mehrwert erzeugt wird.
    »Bei Strafe des eigenen Untergangs«, rief Dr. Bartmann, »ist jeder Kapitalist gezwungen, die Produktion zu modernisieren und den Kampf gegen die anderen Kapitalisten zu führen. Dieser Konkurrenzkampf bewirkt eine ständige Verschärfung der Ausbeutung.«
    Dr. Bartmann diktierte schnell und wiederholte,

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