Neue Leben: Roman (German Edition)
weil eine Straßenbahn kam.
»Die Elf«, sagte er.
»Wirst ja sehen«, sagte sie.
Sogar im Freien roch Titus das Chloramin an ihren Händen.
»War die Nacht ruhig?« fragte er.
»Ging so«, sagte sie. »Du hast es mir versprochen.« Sie hob sein Kinn hoch, er drehte den Kopf weg. Als er sie ansah, konnte er ein Lächeln nicht länger unterdrücken.
»Du versprichst mir jetzt, daß du es vorliest?«
»Ja«, sagte Titus.
An der Haltestelle, sie mußten in entgegengesetzte Richtungen, standen sie einander wie Fremde gegenüber, bis sich zwei Bahnen fast zeitgleich zwischen sie schoben.
Sanddorn, der Musiklehrer, schlug die Tür hinter sich zu, ging mit großen wiegenden Schritten zum Flügel, legte das Klassenbuch ab und rief: »Freundschaft! Setzen!«
Sanddorn ließ sich auf den Klavierhocker fallen, klappte den Flügel auf und spielte ein paar Takte, eine Variation von »Horch, was kommt von draußen rein«, das Lied, das sie vor einigen Wochen hatten vorsingen müssen.
»Wir brauchen Männer«, rief Sanddorn, »mehr Männer!« Und schon verlor sich die Melodie in den Baßtönen. Sanddorn schlug das Klassenbuch auf, blätterte einige Seiten um und stützte sich mit den Unterarmen darauf, so daß die Klasse nur seinen großen Kopf sah.
Titus mochte Sanddorn, obwohl dieser ihn beim Vorsingen nach der ersten Strophe auf den Platz geschickt und die von Titus’ Gesang entstellte Melodie zur Freude aller auf dem Flügel imitiert hatte. Aber eine schlechtere Note als zwei vergab Sanddornbeim Vorsingen nicht. Titus war froh, daß die Woche mit einer Schonfrist begann.
»Mario Gädtke.« Sanddorn hatte den Namen aus dem Klassenbuch vorgelesen. Er merkte sich nur die Namen derer, die im Schulchor sangen. Michael war aufgestanden.
»Eine Eins im Singen, und nicht im Chor?« Mario zählte auf, was er alles mache und warum er nicht auch noch im Chor singen könne. Titus wünschte, Sanddorn würde ihn so etwas fragen, während Mario von Chemiezirkel, Posaunenchor und Judo sprach. Wie gern wäre Titus im Chor gewesen. Sie sangen das Weihnachtsoratorium, das Brahms-Requiem, Verdi, Mozart. Und FDJ -Hemden trugen sie nur zur Schuljahreseröffnungsfeier. Als Peter Ullrich nach vorn mußte, um zum zweiten Mal vorzusingen, ahnte Titus, daß an diesem Tag auch die unverfänglichste Stunde gefährlich werden konnte. Aber ihn, ihn würde Sanddorn nicht nach vorn bitten. Er wäre der letzte, mit dem es Sanddorn noch einmal probieren würde. Und tatsächlich schlug Sanddorn das Klassenbuch wieder zu.
»Haydn-Variationen!« rief er und wiederholte, was Brahms über die Sinfonie gesagt hatte, nämlich daß eine Sinfonie zu schreiben eine Sache auf Leben und Tod sei und daß Haydn – »Wie viele Sinfonien hat Haydn geschrieben?« – darin ein Meister gewesen sei, Haydn und Mozart, Haydn und Esterházy, Brahms und Haydn.
Die Platte knackte. Die Musik begann. Titus lehnte sich zurück. Das Motiv war deutlich.
Während er auf die Musik hörte, beobachtete er Sanddorn, der zwischen Flügel und Fenster hin- und herschritt, den Blick auf den Boden gerichtet, mit der rechten Hand gab er die Einsätze.
Sanddorn war von einer Körperfülle, die Titus als provokant empfand, weil diese Sanddorn als untauglich für eine militärischeBetätigung auswies. Andererseits verstand Sanddorn sein Gewicht mit solcher Anmut zu tragen, daß man in ihm einen guten Tänzer vermuten konnte. In den Pausen schien es, als lustwandele er im Flur vor dem Musikzimmer auf und ab – Sanddorn im Lehrerzimmer war unvorstellbar –, dabei summte er irgendeine Melodie, die, sobald er stehenblieb, von seinen Fingern auf Heizkörper, Fensterbretter oder Scheiben übertragen wurde. Freundlichst erwiderte er jeden Gruß, wobei er sich mit dem ganzen Oberkörper vor Schülern wie Lehrern gleichermaßen verbeugte.
Sanddorn, der am Fenster stehengeblieben war, hob den Finger, um sie auf das Eingangsmotiv hinzuweisen. Titus hätte Sanddorn gern gefragt, ob er bei der Armee gewesen war und was er ihm rate.
[Brief vom 21. 6. 90]
Titus ging nach vorn. Er wollte nicht singen, er konnte nicht singen, Sanddorn mußte doch spüren, wie unmöglich es war, ihn ein zweites Mal dieser Tortur auszusetzen. Jede Zensur wollte er akzeptieren.
Sanddorn ließ den Flügel bereits in einem rätselhaften Vorspiel erdröhnen, um gleich darauf ganz sparsam mit den Zeilen: »Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zu essen, bitte sehr!« zu beginnen.
»Nur
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