Neue Leben: Roman (German Edition)
mitsingen«, rief Sanddorn, »einfach mitmachen!« Sanddorn begann von vorn, nickte ihm aufmunternd zu, und Titus fiel ein. Er hörte nicht einmal das Lachen der Klasse, so laut sang Sanddorn.
Doch als das »Drum links, zwei, drei, drum links, zwei, drei« kam, glaubte Titus, er würde zusammen mit Sanddorn marschieren, er und Sanddorn sangen: »Wo dein Platz, Genosse, ist! Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront, weil du auch ein Arbeiter bist!«
Die zweite Strophe begann, und sie marschierten gemeinsam weiter. Titus hörte sich jetzt, er lehnte sich an Sanddorns Stimme an – oder diese umschloß seine eigene Stimme. Den Text kannte er ja, den hatte er gelernt. Und plötzlich freute sich Titus, als wieder »Drum links, zwei, drei« kam. Er sang laut – und als Sanddorn und der Flügel schwiegen, sang er allein. Aber einen Augenblick später setzte Sanddorn wieder ein, und so marschierten sie gemeinsam durch die dritte Strophe.
»Mittwoch, 13.30 Uhr, Chor!« rief Sanddorn, als Titus zurück auf seinen Platz ging. Das Gelächter brach los, schlimmer als je zuvor. Titus versteinerte. Sanddorn spielte mit seinen heiligsten Gefühlen. Jetzt haßte Titus Sanddorn, dieses dicke Reptil hinterm Flügel. Erst als Sanddorn rief »Aus dem machen wir noch einen richtigen Tenor!«, begann Titus zu begreifen, was soeben geschehen war. Sanddorn schrieb eine Eins ins Klassenbuch.
Titus mußte sich beeilen, es hatte schon während der zweiten Strophe zur Pause geklingelt. Dennoch ließ er sich heute Zeit, weil er Joachim vor sich wußte. Der aber wartete an der Treppe mit dem Wandbild und der elften Feuerbachthese.
»Meine Mutter will, daß ich es vorlese«, sagte Titus hastig.
»Was denn?« Joachim lächelte.
»Über die Bundeswehr, hat sie geschrieben.«
»Deine Mutter? Deine Mutter hat es geschrieben?!«
Titus zuckte mit den Schultern.
»Deine Mutter ist doch eine kluge Frau«, sagte Joachim, zog die Lippen ein und öffnete sie mit einem leisen Knall. »Warum hilft sie dir nicht? Warum macht sie es dir noch schwerer?« Titus grüßte Frau Berlin, die von Joachim zu ihm und dann wieder zu Joachim sah und so ernst blieb, als habe sie mitgehört.
»Warum macht sie das?«
»Meinetwegen«, sagte Titus trotzig und schob sich mit zweischnellen Schritten vor Joachim, um den Entgegenkommenden auszuweichen. Bernadette sah er nirgends. Erst auf der breiten Mitteltreppe erschien Joachim wieder neben ihm.
»Du hast es nicht einfach.«
»Sie hat eben Angst«, sagte Titus, ohne den Kopf zu wenden. Er hatte immer geglaubt, Gott sei sanft und gutmütig, aber jetzt spürte er, daß Gott auch hart und fordernd sein konnte.
»Dir werden andere helfen«, sagte Joachim. »Alle, denen ich von deiner Entscheidung erzählt habe, bewundern dich.«
Titus nickte Dr. Bartmann zu, der gegenüber der Zimmertür am Fensterbrett lehnte und im selben Moment, da sie den dunklen Mitteltrakt verließen, von seiner Zeitung aufsah, als hätte er sie erwartet. Dr. Bartmann lächelte immer. Nur wenn er von der Zukunft des Sozialismus sprach, wurde er ernst. Dr. Bartmann trug ausnahmslos helle Sachen, sogar die Streifen seines Hemdes waren irgendwie farblos.
»Na, Sportsfreunde«, rief er. Dann klingelte es, und Dr. Bartmann faltete die Zeitung zusammen.
Dr. Bartmanns »Freundschaft« hatte etwas Beiläufiges. Er begnügte sich damit, sie nachzuäffen, wenn sie gar zu lasch antworteten, wobei er die Schultern hängen ließ und in die Knie ging, als fiele er in sich zusammen.
»Gibt’s was Neues in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus?« Dr. Bartmann zog seine Hose hoch, bis die Gürtelschnalle jenen Punkt markierte, an dem sein Bauch am weitesten vorstand. »Neun zu null gewonnen, einen Tag lang gehofft, und trotzdem raus! Und was sagt unser Bezirksorgan?« In dem Moment öffnete sich die Tür, und Martina Bachmann erschien mit dem Klassenbuch.
»Ich liebe die Disziplin«, rief Dr. Bartmann, »obwohl ich dafür berühmt bin, sie nicht zu lieben. Na, Bachmännin, wer sagt das?«
Sie legte das Klassenbuch auf den Lehrertisch und zwängte sich, ohne ihren Stuhl zurückzuschieben, auf ihren Platz.
»Jewgeni Jewtuschenko!« rief Dr. Bartmann. »Nicht gelesen? Sowjetische Schriftsteller über Literatur?« Aus seiner offenen Aktentasche zog er einen schmalen Zeitungsstreifen und hielt ihn hoch: »Der Kommunismus kann ohne Puschkin, ohne den einst Ermordeten, und ohne seinen vielleicht noch nicht geborenen Nachfolger nicht
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