Neugier und Übermut (German Edition)
Deutschen gewonnen werden können. Die ersten Reihen, zu denen er als Infanterist zählte, wären dann wahrscheinlich gefallen. Aber er wäre zu diesem Opfer bereit gewesen. Nicht nur wir Kinder, auch mein Vater verdrehten immer die Augen, wenn Großvater erzählte. Für uns gehörte er ins allerletzte Jahrhundert. Zu Weihnachten schenkte er uns Fotos, auf denen er in Pickelhaube zu sehen war. Erinnerung an stolze deutsche Vergangenheit schrieb er auf die Rückseite.
Ich hatte nicht damit gerechnet, als ich im Frühjahr 1984 an die französische Kanalküste fuhr, dass zu dieser Zeit alle Hotels ausgebucht sein würden. Aber es waren aus den USA, aus Kanada, aus Großbritannien viele ehemalige Soldaten mit ihren Familien angereist. Mit Mühe bekamen wir noch in einer kleinen Pension unter dem Dach ein Zimmer unter der Bedingung, dass wir in dem dazugehörigen Bistro zu Abend essen würden.
Neben der Theke, an der einige Arbeiter im Blaumann standen, war nur noch wenig Platz für einige Tische, an denen sich zwei Menschen gegenübersitzen konnten. Das Essen, immerhin gab es als Vorspeise Austern, war nicht schlecht. Der Tafelwein auch nicht. Mein Freund und ich unterhielten uns auf Deutsch. Nicht laut, aber angeregt.
Da drehte sich ein Arbeiter um, dreißig wird er vielleicht gewesen sein, und sagte in normaler Tonlage, überhaupt nicht aggressiv: »J’aime pas les Allemands – ich mag die Deutschen nicht.«
»Et pourquoi pas? – Und warum nicht?«, fragte ich genauso beiläufig.
Er überlegte einen Augenblick und antwortete dann: »J’sais pas. – Weiß ich nicht«, und wendete sich wieder seinem Weinglas zu.
Ein paar Jahre später fuhr Michael Gramberg, mein Kollege im ARD-Studio in Paris, mit dem Kamerateam in die Normandie. Als er einen Laden betrat und nach dem Weg fragte, wurde er sofort zur Tür hinausgewiesen. Hier bediene man keine Deutschen. Aber die Zeiten ändern sich. Die jungen Menschen heute haben Freunde überall auf der Welt.
Bevor Fritzsche ins Ministerium wechselte, hatte er jahrelang Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier als persönlicher Referent gedient. Die beiden kannten sich. Am 20. Juli 1944 waren sie als Mitglieder des militärischen Widerstands gegen Hitler gemeinsam im Bendlerblock, Sitz des Oberkommandos des Heeres, gewesen, später gemeinsam im Gestapo-Gefängnis, wo Gerstenmaier im Vorbeigehen Fritzsche zuflüsterte: »Wir kennen uns nicht.« Beide hatten überlebt.
Fritzsche wurde 1914 als Sohn eines Werkmeisters geboren. Sein Vater schippte in der Seeschlacht am Skagerrak Kohlen in den Kessel eines Kriegsschiffes, bei der letzten großen Flottenschlacht des 1. Weltkriegs, bei der 115 000 britische und 61 000 reichsdeutsche Schiffstonnen versenkt worden waren.
1933 machte Fritzsche Abitur als einer der Besten im Land Baden und fuhr mit Koffer und Geigenkasten nach Heidelberg zum Studium. Dort setzte er sich persönlich für Professor Arnold Bergsträsser ein, der von den Nazis von der Universität verjagt wird – und Fritzsche bekam Schwierigkeiten.
Später, als ich mit einem Tonband bei ihm erschien, sagte er: »Es gab zunächst persönliche Spannungen mit diesem oder jenem, wegen meines persönlichen Eintretens vor dem Reichsstudentenführer für den Professor Arnold Bergsträsser, der als angeblicher Jude von der Universität weggeschickt werden sollte. Das empfand ich erst einmal nur als Meinungsunterschied, aber nicht als einen Akt des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus.«
1936 promovierte Fritzsche über einen mittelalterlichen Fall von Revolte. Der Landvogt Peter von Hagenbach, der wie ein Tyrann geherrscht hatte, wurde vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Anhand dieses Vorfalls reflektierte Fritzsche über Tyrannenmord und natürliches Widerstandsrecht. Allerdings – rein theoretisch. Der Prozess gegen Peter von Hagenbach wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in der völkerrechtlichen Literatur als Vorläufer der Nürnberger Prozesse diskutiert.
Weil er wegen seines Einsatzes für Bergsträsser nicht an der Universität bleiben konnte, wurde Fritzsche Berufsoffizier. Zu seinem Glück wollte es der Zufall, dass er gleich nach seinem Rigorosum beim Infanterieregiment 9 in Potsdam antreten konnte. Dieses Regiment galt in der Wehrmacht als die vornehmste Adresse und wurde »Graf Neun« genannt, da viele Adlige in ihm dienten. Richard von Weizsäcker, sein ältester Bruder Heinrich, der am zweiten Tag des Polenfeldzuges fiel, Philipp von Bismarck,
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