Neugier und Übermut (German Edition)
aufbaute. Weil er aber, so erzählte er uns, mit dem Landesgruppenleiter der NSDAP in Shanghai Krach bekommen hatte, sollte er nach Berlin zurückberufen werden. Nur dank der Intervention von Erich Kordt, Gesandter an der Botschaft in Tokio und insgeheim Gegner des Regimes, konnte er in gleicher Funktion 1941 nach Tokio wechseln, wo ich 1942 geboren wurde. 1947 wurden wir »repatriiert« und lebten in Heidelberg, wo mein Vater bald als Autor von Büchern und Hörspielen sowie als Träger des ersten Hörspielpreises der Kriegsblinden bekannt wurde. Aber er wollte wieder in die Dienste des Auswärtigen Amtes zurückkehren, weil er – wie er in seiner Biographie schrieb – Angst hatte, als Autor nicht erfolgreich genug zu sein. Seine alten Freunde verhalfen ihm dann zu dem Posten in Paris. Da hatte er Glück, denn es wurden keineswegs alle ehemaligen Diplomaten wieder in den »Dienst« aufgenommen. Auch jener »Onkel Erich« – wie Erich Kordt bei uns Kindern hieß – nicht. Bundeskanzler Konrad Adenauer lehnte ihn mit der Begründung ab: »Der hat schon einmal seinen Chef ›betrogen‹.« Erich Kordt, zeitweise Büroleiter von Außenminister Ribbentrop, war zwar Mitglied der NSDAP gewesen und sogar Obersturmbannführer der SS, aber er und sein Bruder Theo gehörten schon vor dem Krieg zum Widerstand und hatten sogar geplant, einen Anschlag auf Hitler auszuführen.
Der Lateinlehrer in der französischen Schule sagte mir, der ich kaum ein Wort Französisch verstand, ich könnte meine Klassenarbeit auch auf Deutsch schreiben, er verstehe es, weil er in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen sei. Aber bitte nicht in Sütterlinschrift, die könne er nicht lesen, aber ich, dreizehn Jahre alt, hätte sie in dieser »deutschen« Schrift auch nicht schreiben können.
Als wir dann im Sommer 1956 in dem kleinen normannischen Küstenort Franceville Urlaub machten, malte nachts irgendjemand Hakenkreuze an das Gartentor. Die Menschen in der Normandie waren von der Landung der Alliierten und der deutschen Verteidigung besonders hart getroffen worden. Wir Kinder verstanden die Zeichen nicht. Unsere Eltern, danach befragt, gaben ausweichende Antworten. Mein Vater hat später erzählt, dass er in der Reichsschrifttumskammer Mitglied werden musste, weil er schon als Student in den dreißiger Jahren Bücher geschrieben hatte. Dass er auch PG, also Parteimitglied, gewesen war, erfuhr ich erst aus dem DDR-Braunbuch über Kriegs- und Naziverbrecher 1965. Und deshalb lehnte es später auch die Regierung in Prag ab, ihn als Deutschen Botschafter zu akzeptieren.
In Franceville kam eines Tages eine alte Französin und brachte uns Erkennungsmarken von gefallenen deutschen Soldaten, die auf dem kleinen Friedhof vor der Kirche beerdigt waren. Von unserem Vater angeregt, kauften mein älterer Bruder und ich schwarze Farbe und strichen die verwitterten Holzkreuze. Erst sehr viel später sah ich, dass auf Soldatenfriedhöfen die Kreuze meist weiß sind.
1984 fand in der Normandie ein großes Gedenken an die alliierte Landung im Juni 1944 statt, die von den Deutschen auch vierzig Jahre später immer noch als »Invasion« bezeichnet wurde, so als drängten damals fremde Truppen auf deutsches Gebiet, dabei befreiten die Alliierten das von den Nazis besetzte Frankreich.
Der französische Staatspräsident François Mitterrand plante eine große Feier, zu der die Staatsoberhäupter all der Länder eingeladen werden sollten, die an der Landung teilgenommen hatten. Aus den USA hatte sich Präsident Ronald Reagan angesagt. Inzwischen war ich Korrespondent der ARD in Paris und würde die Zeremonie in der ARD während der Direktübertragung kommentieren müssen. Deshalb reiste ich einige Wochen vorher mit einem Freund in die Normandie, um die wichtigsten Orte in Augenschein zu nehmen: den »Omaha-Beach«, die Küste, wo unzählige alliierte Soldaten getötet wurden, und die Soldatenfriedhöfe der verschiedenen Nationen, wo auf Tausenden von weiß gestrichenen Kreuzen die Jahreszahlen bezeugten, dass hier eigentlich Kinder gestorben waren, wenn auch viele schon 18 oder 19 Jahre alt waren. Und, ist man da nicht noch Kind, wenn man erschossen wird?
In französischer Erde hätte auch mein Großvater liegen können. Er kam uns in Paris besuchen und ließ sich von seinem widerstrebenden Sohn an die Marne fahren, wo er 1914 an vorderster Front gekämpft hatte. Jetzt, vierzig Jahre später, war er immer noch der Überzeugung, die Schlacht hätte von den
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