Neugier und Übermut (German Edition)
ihm zu, er ließ sich auf ein Gespräch ein. Sie erklärte ihre verzweifelte Lage, er nahm sie über den Ausländerübergang mit nach Westberlin. So kam Ute in den Westen, und als wäre das ganz einfach gewesen, hat sie anschließend auch noch auf die gleiche Art und Weise ihre beiden Schwestern nach West-Berlin geholt. Als ich fragte, ob sie noch Kontakt zu dem Italiener hätte, lachte Günter Grass. Ja, sie hätten ihn einmal in Italien besucht. In Rom! Er sei Zahnarzt und habe sehr grantig gewirkt. Ute widersprach zwar, aber Günter blieb dabei. Er sei grantig gewesen.
Eines Abends, als ich wieder einmal am Tisch in Behlendorf saß, fragte mich Günter Grass, ob er mir ein Kapitel aus dem Roman vorlesen dürfe, an dem er gerade arbeite. Er erklärte mir die Geschichte von Fonty und Fontane, die Parallelität der Biographien. Fontane war während des deutsch-französischen Krieges 1870 als Beobachter nach Paris gereist und dort versehentlich als Spion verhaftet worden, Fonty dagegen als Soldat im Zweiten Weltkrieg in der Gegend von Lyon einer Französin namens Madeleine verfallen und hatte, wie sich später herausstellte, mit ihr eine Tochter gezeugt. Es ist das Kapitel »Allein im Boot« in dem Roman »Ein weites Feld«.
Grass hatte einen Hintergedanken, als er mir die Szene vorlas. Denn er hatte in meinem Buch »Frankreich, die wunderbare Illusion« die grässliche Geschichte der Geschorenen von Saint Flour gelesen.
Ein minderjähriges Mädchen aus Saint Flour verliebte sich im Krieg in einen deutschen Soldaten. Nach der Befreiung von Saint Flour von den Deutschen wurde dem Mädchen, wie vielen Frauen in Frankreich, die sich mit den Besatzern eingelassen hatten, der Kopf kahl geschoren. Die Scham über diese Tat veranlasste ihre Eltern, ihre Tochter einzusperren und nur noch nachts durch die Straße von Saint Flour zu führen. Als die Eltern starben, übernahmen die beiden Brüder des Mädchens die Wache über ihre Schwester, bald lebten die drei verbarrikadiert in ihrem Haus und hatten nur noch über den Postboten Kontakt zur Außenwelt. Dreißig Jahre nach Kriegsende stürmte schließlich ein Einsatzkommando das Haus, in dem inzwischen die vermoderte Leiche des einen Bruders lag, während die Schwester und ihr jüngerer Bruder in einem Bett hausten.
Auch Fontys Madeleine wird der Kopf kahl geschoren.
In der Szene, die Grass mir vorlas, rudert Fonty mit Madeleine in einem Boot auf der Rhône. Die Rhône ist aber ein breiter Fluss mit kräftiger Strömung, wo es sich schlecht rudern lässt. Ich schlug Grass vor, er möge Fonty auf den Seen der Bresse nordöstlich von Lyon rudern lassen, die Gegend ähnele – was die Seen angeht – ein wenig Fontanes Brandenburg. Außerdem sei die Bresse die Gegend Frankreichs mit köstlichen Fischen, Hühnern und Obstbäumen. Ich versprach Günter, ihm Material über die Gegend zu schicken. Nun gut; ich will die Geschichte nicht ungebührlich aufblasen: Die endgültige Szene macht gerade zwanzig Zeilen aus in dem Roman von 780 Seiten.
Als »Ein weites Feld« 1995 erschienen war, haben Hansjürgen Rosenbauer, inzwischen Intendant vom Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB), und ich ein dreiviertel Stunden langes Fernsehgespräch mit Grass für die ARD im Fontanehaus in Neuruppin aufgenommen. Grass hatte sich im Datum geirrt und war mit Ute einen Tag zu früh angereist. Doch dann hat er brav einen Tag lang auf uns in Neuruppin gewartet. Rosenbauer und ich hatten schon einige Jahre zuvor ein langes Gespräch mit Grass aufgenommen, damals lebte er noch in Wewelsfleth. Anlass war der 25. Geburtstag der »Blechtrommel«. Und 25 Jahre später, zu deren 50. Geburtstag, habe ich auf Bitten von Günter dann im Theater von Lübeck eine Diskussion unter Literaturkritikern über die »Blechtrommel« geleitet. Es kamen Ina Hartwig (FR) Joachim Kaiser (SZ) , Eckhard Fuhr (WELT) Jochen Hieber (FAZ) , Adam Scoboczynski (ZEIT) . Als Literaturkritiker kannten sie sich mit der Materie weitaus besser aus als ich.
Meine Naivität erlaubte mir aber eine mutige Aussage: Ich behauptete, Oskar sei in Wirklichkeit niemand anderes als Grass selbst, der mit Ute in der ersten Reihe des Theaters saß. Beim anschließenden Festgelage hat er es mir dann bestätigt. Aber vielleicht tat er dies nur aus Milde mir gegenüber.
Das für mich schwierigste Gespräch mit Günter Grass habe ich im August 2006 in Dänemark geführt. Und das hat eine lange Vorgeschichte. Seit langem stand fest, dass ich zu Ende
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