Neugier und Übermut (German Edition)
dem Tod von Mao begann Deng Xiaoping langsam, Chinas Grenzen zu öffnen. Die Welt schaute mit Erstaunen auf das Riesenreich des Ostens. An der Mauer der Demokratie veröffentlichten, mitten in der chinesischen Hauptstadt, Künstler, Autoren und Dissidenten ihre Werke und kritisierten die Zustände.
Günter Grass hatte mir eben ein zehn Minuten langes Interview gegeben. Er war zu Vorträgen an der Universität von Peking, zu Gesprächen mit chinesischen Autoren und Lesungen in Peking und Shanghai nach China eingeladen worden. Und da ich mit Kameramann Michael Giefer gerade einige Wochen lang in Peking alles drehte, von dem ich meinte, es könnte die Fernsehzuschauer in Deutschland interessieren, begleiteten wir auch Günter und Ute Grass während ihrer Tage in Peking.
An der Mauer der Demokratie hatte sich Grass spontan mit einigen chinesischen Künstlern unterhalten und mit einem Maler ein Bild getauscht. Der Chinese übergab Grass eine Tuschezeichnung, der hatte eine Radierung seines Butts dabei. Der Chinese kannte die Technik nicht und fand sie hochinteressant. Grass würde von Deutschland aus versuchen, ihm einige Kupferplatten zu schicken, nicht wissend, ob der Chinese in Peking überhaupt jemanden fände, der ihm beim Drucken helfen könnte.
Eine Menge wissbegieriger Chinesen, alle noch im Mao- Look, umgaben uns, als wir das Interview führten. Michael Giefer drehte. Ich war Reporter, Kameraassistent und Toningenieur in einem. Leider beherrschte ich die Stellafox, ein leichtes Tonbandgerät für professionelle Zwecke, nicht gut genug. Wenn man beim Bedienen dieses Geräts den Schalter einmal zu weit drehte, dann konnte das Tonband aus der Spule laufen. Und genau das war geschehen. Zehn Minuten Interview. Und aus der Stellafox quoll ein wirrer Tonbandsalat! Ich war verzweifelt, stellte aber fest, dass unser Gespräch auf dem Bandknäuel aufgezeichnet worden war.
Da sagte Ute Grass: »Ich stricke. Deswegen weiß ich auch, wie man so ein Knäuel aufdröselt.« Und tatsächlich, innerhalb weniger Minuten hatte sie mein Problem gelöst, während die Chinesen ihr mit großer Neugier zusahen.
Günter und Ute Grass waren von meinem Vater – zu jener Zeit auf Posten an der deutschen Botschaft in Peking – nach China eingeladen worden. Der Dichter und seine Frau wohnten in einem der beiden Gästezimmer, im anderen hauste ich. Und da schlug ich vor, das Ehepaar Grass zu den jeweiligen Veranstaltungen zu fahren, zumal wir sie ja sowieso mit der Kamera begleiteten. So waren wir einige Tage gemeinsam unterwegs.
Eines Abends lud mein Vater das Ehepaar Grass zu einer Vorstellung in der Peking Oper ein. Eine Peking Oper ist für Unwissende das langweiligste, was man sich vorstellen kann. Die Musik klingt äußerst monoton, ping ping peng tsching, den Text verstehen selbst Chinesen schlecht. Wie das halt bei Opern so ist.
Grass hielt am Nachmittag einen Vortrag an der Pekinger Universität und ich hatte vorgeschlagen, danach zuerst ein chinesisches Lokal zu besuchen und anschließend meine Eltern in der Oper zu treffen. So wurde es beschlossen.
Mir hatte jemand eine Tür in einer großen Straße gezeigt und zugeflüstert, dahinter verberge sich eines der besten chinesischen Restaurants von Peking. Ich fand die Tür wieder. Wir betraten das Lokal. Es bestand aus mehreren Räumen. Vorn stand man an hohen Holztischen. Im Raum dahinter saßen die Gäste an runden Tafeln. Doch vornehme Chinesen und erst recht Ausländer, so sie kamen, wurden in Separées geführt. Das wollten wir aber nicht. Wir wollten im großen Speiseraum unter normalen Chinesen sitzen und mit denen essen. Darum machten wir dem freundlich drängenden Personal mit Händen und Füßen verständlich, dass wir nicht in einem abgetrennten Raum sitzen wollten. Und das gelang uns nur, indem wir einfach an einem leeren Tisch Platz nahmen.
Dann kam eine Kellnerin und gab uns Speisekarten. Die waren nur in Chinesischer Schrift. Also redete die Kellnerin auf mich ein. Ich antwortete ihr, es ergab sich ein längeres Gespräch. Danach fragte Günter Grass, was ich denn bestellt hätte. Ich sagte: »Ich habe keine Ahnung. Denn ich spreche überhaupt nicht Chinesisch.«
»Aber Sie haben doch mit der Kellnerin geredet«, sagte Grass.
»Ja. Aber ich habe immer nur shi shi gesagt. Shi heißt Ja, und man sagt immer gleich zweimal shi, wie um die Bedeutung des Ja zu bestätigen. Ich gehe davon aus, dass Sie uns für dumme Langnasen hält und einfach ein normales Menu
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