Neugier und Übermut (German Edition)
servieren wird. Ich habe nur zu trinken bestellt.«
»Und was?«
»Ich kann auf Chinesisch gerade mal bis zehn zählen. Also habe ich vier Bier – Tsingtao Pijiu – und vier Schnäpse – Mao tai – bestellt.«
Wir aßen gut und vergnügt, denn ich bestellte immer wieder vier Pijiu und vier Mao tai.
In Peking fuhren 1979 kaum Autos durch die Straßen. Das Fahrrad war immer noch das Hauptverkehrsmittel. Doch abends war kaum noch jemand unterwegs. Ich schaffte es irgendwie, den Privatwagen meines Vaters, den wir benutzen durften, ohne Schaden durch die leeren Straßen bis zur Oper zu lenken. Dort schliefen Günter Grass und ich sofort nach Beginn der Aufführung ein. Grass begann zu schnarchen. Mein Vater, den Grass in seinem Buch »Kopfgeburten« als einen straffen Herrn beschreibt, »der es verstünde, selbst seine Leidenschaften in Reih und Glied antreten zu lassen«, womit er nicht ganz unrecht hat, war nicht amüsiert. In der ersten Pause sagte er vergrätzt: »Wir gehen jetzt.«
Zu Hause war Günter Grass wieder so munter, dass mein Vater wie jeden Abend noch den Korken aus einer Flasche guten Bordeaux zog. Und er war schließlich wieder guter Laune, als er eine Schachtel mit Ampullen hervorholte und das begann, was er unsere abendliche »Ginseng-Orgie« nannte. Jeder erhielt eine oder zwei Ampullen, in denen Ginsengsaft war. Man brach die Spitze ab und trank den Saft aus dem Fläschchen. Angeblich verleiht Ginseng dem Menschen besondere Kräfte. Als Beweis für die Richtigkeit mag Helmut Schmidt dienen, der mit seinen 93 Jahren noch um die Welt fliegt und ein Buch nach dem anderen veröffentlicht. Vor vierzig Jahren hatte ein koreanischer Freund Schmidt auf die Vorzüge von Ginseng hingewiesen. Seitdem ließ sich Schmidt den Ginseng stets aus Korea schicken, bis seine Frau Loki entdeckte, dass koreanischer Ginseng auch in Deutschland angepflanzt wurde.
Grass spricht in »Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus« – sein Buch über die Reise nach Asien – nicht von diesen »Orgien«, aber er beschreibt, dass er und Ute auf Wunsch mei- nes Vaters grobe Leberwurst bei ihrem Dorfmetzger in Wewelsfleth, »dem Jungmeister Köller, zwei angeräucherte, darmpralle Würste in Folie einschweißen« ließen und die holsteinischen Produkte im Handgepäck verstauten. Und als das Paar Grass aus Asien zurückkehrte, hing beim Metzgermeister Köller schon ein Dankesschreiben aus Peking mit ordentlichem Briefkopf.
Als Ute und Günter Grass das Gästezimmer in Peking verlassen und nach Shanghai weitergereist waren, saß die Familie abends ruhig bei der Ginseng-Orgie, und mein Vater kritisierte den Dichter aus Deutschland. An einem der letzten Nachmittage waren chinesische Dichter zu einem Treffen mit Grass in die Botschaft gekommen. Sie haben ihm ihre Lage geschildert und wohl auch betont, dass es nun mehr Freiheit gebe. Die chinesischen Autoren meinten wohl politische Freiheiten. Und das war es auch, was meinen Vater interessierte. Aber Günter Grass habe immer nur gefragt, ob sie denn auch über Sex schreiben dürften. Das fand mein Vater völlig unangemessen.
Zwei Jahre später war ich Korrespondent in New York. Da rief mich ein junger Mann an, der sich mit eloquenten Worten vorstellte. Ben Shiff vom Limited Edition Club. Der Club habe gerade eine besonders wertvolle Ausgabe des »Simplicissimus« herausgegeben, neu übersetzt von John P. Spielman, illustriert mit Holzschnitten von Fritz Eichenberg, die für dieses Buch entworfen worden waren.
»Je nun«, sagte ich zu Ben Shiff, »das ist interessant, aber für’s Fernsehen langweilig. Denn außer einem Buch kann man ja nichts zeigen.«
»Doch, man kann viel zeigen«, antwortete Ben Shiff und überredete mich, ihm einen Termin zu geben.
Sid Shiff, Bens Vater, war Börsenmakler gewesen und hatte im Alter von fünfzig Jahren so viel Geld verdient, dass er beschloss, sich den Künsten zu widmen. Er kaufte den Limited Edition Club, der ein oder zwei bibliophile Sonderausgaben im Jahr verlegte. Der Preis für die Mitgliedschaft in dem besonderen Buchclub stieg ständig an und lag inzwischen bei fünftausend Dollar. Sein Sohn Ben war überall rausgeflogen. Aus den Schulen, aus dem College. Er fühlte sich als Künstler. Er malte, aber die Bilder überzeugten nicht. Ich weiß nicht, ob er Drogen genommen hat, aber mir schien es so. Nun hatte der Vater dem Sohn die Chance gegeben, im Verlag mitzuarbeiten. Und Ben entwickelte ein besonderes Gespür. Er brachte
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