Neugier und Übermut (German Edition)
auf ihn blickten, war die eine Sache, aber müsste ich den angegriffenen Freund nicht schützen? Mir war, als tanzte ich auf einem Drahtseil hoch oben über dem Eiffelturm.
In den ersten zehn Minuten des Gesprächs spürte ich die Anspannung durch leichtes Schwitzen. Hinzu kam, dass eine lästige Wespe dauernd vor meinem Gesicht herum flog, und ich hätte ziemlich blöd ausgesehen, hätte ich nach ihr geschlagen, um sie zu vertreiben. Mir wäre sicher nicht gelungen, wie Barack Obama, während eines Interviews, eine lästige Fliege mit einem Handschlag einzufangen.
Der Drahtseilakt scheint schließlich gelungen zu sein. Das Interview wurde, nachdem es in der ARD mit guter Einschaltquote gelaufen war, im SPIEGEL und vielen Tageszeitungen nachgedruckt.
Als Interviewer von Grass wurde ich nun zum Interviewten. Michael Hanfeld veröffentlichte am Tag der Sendung meines Gesprächs mit Grass ein Gespräch mit mir im Feuilleton der FAZ .
»Sie haben Günter Grass am Dienstag gesprochen«, fragte Hanfeld. »Wie sieht er die Reaktionen auf seine Eröffnung, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein?«
»Er ist erstaunt über das Ausmaß der Reaktion. Er ist sicherlich auch verletzt über die eine oder andere Äußerung. Ich glaube, er ist verwundert, dass gerade dieser Teil aus seinem Buch solch eine große Aufmerksamkeit bekommt, weil – das kommt in dem Interview auch vor – er andere Dinge wichtiger findet.«
»Welche anderen Dinge?«
»Er schildert in dem Buch zum Beispiel, wie ein Cousin seiner Mutter, Onkel Franz, der die polnische Post in Warschau mitverteidigt – diese Szene kommt auch in der »Blechtrommel« vor –, von den Deutschen standrechtlich erschossen wird und die Frau und die vier Kinder von Onkel Franz dann wieder zu den Kaschuben zurückziehen. Günter Grass darf mit den Kindern nicht mehr spielen, und er sagt, ›ich habe mir nie Fragen gestellt‹. Oder eine andere Geschichte: Im Arbeitsdienst gibt es einen Zeugen Jehovas, der lässt immer das Gewehr fallen, wenn Appell ist. Dann werden die anderen Mitglieder dieser Einheit aufgefordert, Druck auf ihn auszuüben, und dann verschwindet er irgendwann. Und Grass sagt: ›Ich habe mir nie Fragen gestellt, ich habe das mitgemacht, da habe ich eigentlich mehr persönliche Schuld auf mich geladen.‹«
»Sie sind seit langer Zeit mit Günter Grass befreundet. Was halten Sie von den Reaktionen auf seine Eröffnung?«
»Es stimmt, ich bin mit ihm befreundet. Aber ich war bei ihm als Journalist. Was die Reaktionen angeht, da muss man sortieren. Es gibt diejenigen, die, wie ich finde, sehr wohlfeil verurteilen. Es gibt diejenigen, die sich zu Recht Fragen stellen und prüfen: Was hat er denn selber gesagt? In dem Gespräch halte ich ihm manche Zitate vor, wie er zum Beispiel in der Rede, die er 1967 in Israel hält, alles aus seiner Nazi-Jugend erzählt, nur das Wort Waffen-SS auslässt. Ich habe ihn auf Bitburg angesprochen, wo Kohl davon spricht, dass diese jungen Waffen- SS-Leute verführt worden sind. Ich habe gesagt: Hätten Sie sich nicht dazu bekennen können, statt ihn zu kritisieren? Man muss wirklich das Buch genau lesen. Interessant ist, was zwischen den Zeilen steht. Grass ist im Krieg, er ist in Kriegsgefangenschaft. Die Eltern sind aus Danzig geflohen. Er denkt, sie seien auf der Gustloff umgekommen, und er erfährt durch Zufälle dann, wie das damals eben war, dass die Eltern im Rheinland sind. Er trifft die Eltern wieder. Und dann ist die Mutter da und die Schwes- ter, und dann sagt er, es wurde verschwiegen, was passiert war, als die Russen nach Danzig kamen. Ob die Mutter vergewaltigt worden ist, ob die Schwester vergewaltigt worden ist. Dann sagte er, er hat sehr lange gebraucht, bis er das Thema der deutschen Vertreibung überhaupt als Hauptthema behandeln konnte. Und ich frage ihn, ob sein Buch ›Im Krebsgang‹ und die Behandlung der deutschen Vertreibung ein Schlüssel gewesen ist, jetzt auch das andere Tabu zu brechen. Er sieht die Möglichkeit, dass das so gewesen ist …«
»Es stellt sich auch die Frage, ob Grass für seine, für die ›Flakhelfer- Generation‹ nicht früher hätte sprechen können.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Er hätte seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS früher offenbaren können. Es ist falsch, jetzt zu spekulieren, ob es ihn belastet hätte, ob er deswegen den Nobelpreis nicht bekommen hätte. Ich verstehe auch nicht, warum er es nicht gesagt hat. Das Interessante ist, ich habe den Eindruck, dass er
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