Neukölln ist überall (German Edition)
gerade eine neue Lebenserfahrung«, antwortet sie mir auf die Frage, wie es ihr denn so gehe fernab vom eigentlich geliebten Kiez. »Es kommen Kinder in mein Büro und reden mit mir in ganzen Sätzen.«
So weit der Blick hinter die Kulissen von zwei Neuköllner Kindertagesstätten und in die Erfahrungswelt von zwei Frauen, die ihr gesamtes Berufsleben lang Kindern und Eltern Ratgeber waren. Mich packte bei beiden Gesprächen immer dann ein unbändiger Zorn, wenn meine Gedanken auf Wanderschaft gingen und mir das Betreuungsgeld in den Sinn kam, diese Mutation einer verantwortungsvollen Politik für die Kinder dieses Landes. Während ich diese Zeilen schreibe, ist noch nicht endgültig klar, ob sich die vernünftigen Kräfte in der CDU / CSU doch durchsetzen oder ob sie dem massiven Druck erliegen und plattgemacht werden. Im Juni 2012 verhalf ein Verfahrenstrick zum Zeitgewinn. Aber damit ist die Schlacht noch nicht gewonnen.
Wenn wir vom größten anzunehmenden Unfall – der Einführung der Herdprämie, wie ich das Betreuungsgeld nenne – ausgehen, dann bedeutet das die Zementierung der Unterschicht. Es bedeutet, dass Tausende Kinder, die in prekären Lebensverhältnissen aufwachsen, ihrer Bildungschancen beraubt werden. Nach einer Untersuchung der Bertelsmann Stiftung erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer gymnasialen Schulbildung nach einem Krippenbesuch um bis zu 83 %, wenn ein Kind aus einem Elternhaus mit lediglich Hauptschulbildung stammt. Legt man nur den Status als Migranten zugrunde, beträgt der Steigerungsfaktor noch 56 %. Der symptomatische Titel dieser Untersuchung lautete: »Der volkswirtschaftliche Nutzen der Krippen-Erziehung«.
Ich empfinde die Herdprämie auch als zutiefst unmoralisch. Es ist unanständig, Menschen mit sehr schwach ausgeprägten sozialen Kompetenzen und damit einhergehendem permanenten Geldmangel Euroscheine unter die Nase zu halten und sie zu fragen: »Willst du die haben? Oder willst du lieber Geld für einen Kita-Platz bezahlen?« Vorsätzlich und schamlos die Schwäche von Menschen zu Lasten Dritter, nämlich ihrer Kinder, auszunutzen ist weder christlich noch verantwortungsvoll. Zwei Milliarden Euro soll der Steuerzahler für diesen Quatsch auf den Tisch legen. Es schüttelt mich. Man kann nur hoffen, dass dieser Unfug von der nächsten Bundesregierung als erstes einkassiert wird.
Der von der CDU / CSU vorgeschlagene Weg, das Betreuungsgeld nicht an Hartz- IV -Empfänger zu zahlen, macht die Situation nicht besser. Der Hartz- IV -Empfänger würde dann weiter die Mindestsätze für den Besuch einer Kindertagesstätte und die Essensbeiträge von seinem Existenzminimum zahlen, und der andere bekäme eine Prämie obendrauf. Übrigens auch, wenn er sein Kind in die Tagesbetreuung gibt. Die Herdprämie ist nämlich gar nicht an den eigenen Herd gebunden. Die Begründung der Belohnung für Eltern, die ihre Kinder alleine erziehen, ist also ein Etikettenschwindel. Es geht einzig und allein um finanzielle Aspekte. Wer keine staatliche Förderung in Anspruch nimmt, erhält sozusagen als Bonus so eine Art Schadensfreiheitsrabatt. Damit soll den Eltern ihr Rechtsanspruch auf Betreuung entweder in der Kindertagesstätte oder in der Tagespflege abgekauft werden. Wenn man überhaupt schon solche absurden Gedankengänge anstellt, dann kann doch das Ergebnis nur sein, dass Hartz- IV -Empfänger, die das Betreuungsgeld nicht erhalten, im Gegenzug wenigstens von jeglichen Beiträgen für die Kindertagesstätten freigestellt werden.
Es ist ein Novum, dass wir Prämien dafür zahlen wollen, dass mit Steuermitteln geschaffene Angebote nicht wahrgenommen werden. Dann kann man auch Nichtschwimmern eine Prämie dafür zahlen, dass sie das Schwimmbad nicht in Anspruch nehmen. Das Betreuungsgeld hindert Frauen an der Berufstätigkeit, benachteiligt Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen, konterkariert den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz und ist familienpolitisch rückwärtsgewandt. Die Erfahrungen in Norwegen und in Thüringen bestätigen eindrucksvoll, dass gerade die Kinder mit dem größten Förderbedarf von ihren Eltern des Geldes wegen von der Kindertagesstätte ferngehalten werden. Norwegen ist inzwischen dabei zurückzurudern. Das Betreuungsgeld für Kinder ab zwei Jahre wurde bereits abgeschafft. Es hat sowohl die Geschlechtergleichstellung als auch die Integration in Norwegen ausgebremst, heißt es zur Begründung. Auch aus Schweden hört man ähnliche Pläne. Die
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