Neukölln ist überall (German Edition)
die Verschulung der Kindertagesstätten!«, lautete ein Schlachtruf. Wenn ich mich richtig erinnere, begannen damals der Bezirk Kreuzberg und wir mit Experimentierphasen im Kindergartenalter. In Neukölln probierten drei Einrichtungen drei Konzepte von unterschiedlichen Hochschulen aus. Ich stellte damals Geld zur Verfügung, damit sich die Einrichtungen auf den Weg machen konnten. Heute ist Sprachtraining und Sprachausbildung in unseren Kindertagesstätten Alltag. »Und sie bewegt sich doch«, würde Galileo Galilei an dieser Stelle sagen.
Unsere Leiterin ist Optimistin. Sie sagt, das Bildungsniveau wird besser. Alleine schaffen es die Eltern und die Kinder aber nicht. Sprache, Sport und vernünftige Ernährung sind die drei Stellschrauben, meint sie. Kinder aus der Siedlung, die in der Kita waren, haben in der Schule eine Chance, die anderen gehen den Bach runter. Das ist ein sehr brutales Resümee. »Ja«, sagt sie, »aber es hilft nichts, sich daran vorbeizumogeln.« Und sie weiß, was das konkret bedeutet: Wir brauchen zumindest in den Stadtgebieten, in denen prekäre Lebenssituationen dominieren, eine Kindertagesstättenpflicht. Und wenn es nicht genug Plätze und Erzieher gibt, dann müssen wir welche aus dem Boden stampfen. Manchmal tun es ausgediente Bahnwagen auch. Wir müssen für die Kinder den Rucksack des Lebens packen. In der Schule kristallisieren sich dann die Unterschiede der intelligenten Kinder und der nicht so intelligenten heraus. Und dann kommt wieder so ein Hammersatz: »Schlechte Eltern machen Kinder zu Zeitbomben.«
Niemand geht mit den Kindern in den Zoo, der Fernseher regelt alle Probleme, eigene Anstrengung ist verpönt. Die Kita-Leiterin ist durchaus dafür, dass man Eltern Druck macht. Wenn jemand seine Kinder vernachlässigt: weg mit dem Kindergeld und kein Hartz IV . Wir haben die Menschen bequem gemacht, die Gesellschaft regelt alles für sie. Sie bügelt die Falten aus dem Hemd des Lebens. Aber jeder Familienhelfer macht die Familie noch unselbständiger.
Gut 30 % der Kinder der Siedlung haben eine Chance, weil sie ihre Kindertagesstätte besucht haben. 70 % kommen vom Fernseher zu Hause motorisch gestört und intellektuell verarmt in die Schule. Als ich ihr sage, dass wir im letzten Jahr 39 % der Einwandererkinder mit schwersten Sprachdefiziten in Neukölln eingeschult haben, entlässt sie mich mit einem kurzen und knackigen Satz: »Aber die kamen nicht aus meiner Kita!«
Meine zweite Gesprächspartnerin gilt ebenfalls als ausgesprochen resolut. Sie leitet eine große Einrichtung. Das Haus hat Regeln, die für alle gelten. Wem sie nicht gefallen, der kann gehen. Wer nicht freiwillig geht, wird nachdrücklich entfernt.
In ihrer Kindertagesstätte gibt es keine Kopftücher, und man schaut sich an, wenn man miteinander spricht. Väter, die verlangen, dass sie als Frau den Blick vor ihm zu senken hat, müssen weiter nach einem Platz suchen. Seit 1996 macht sie ihren Job. »Früher war es einfacher«, sagt sie. »Wir hatten hier klare türkische und arabische Mehrheiten. Heute sprechen unsere Kinder 26 verschiedene Sprachen. Wir sind eine Bildungseinrichtung, die einzige, die die Kinder haben. Unsere Siedlung ist das Dorf. Und ihr Dorf lieben alle, das kennen sie.«
Viele Familien verlassen die Siedlung nie. Mit den Kindern irgendwo hinzufahren, in den Tiergarten oder ins Kindertheater, darauf kämen die meisten nie. »Wir inszenieren Ausflüge über die nahegelegene nächste Hauptstraße. Das sind zwar nur 100 bis 200 Meter, aber die Wirkung, die das Überschreiten dieser Grenze auf die Kinder hat, ist unglaublich. Wir sind in unserer Arbeit kleinteilig geworden, aber auch bescheiden bei der Erfolgserwartung. Wenn wir sehen, dass 10 % der Eltern das annehmen, was wir trainiert haben, dann sind wir froh.«
»In unserer Einrichtung wollen wir den Kindern Verlässlichkeit beibringen«, sagt sie. »Der Tag ist strukturiert. Jeder kann sich darauf verlassen: Was angekündigt wird, findet auch statt. Es beginnt damit, dass alle Kinder bis 8.30 Uhr zum Morgenkreis da sein müssen. Dann schließen wir die Tür ab. Das hört sich hart an, aber wir müssen die Menschen in Regeln zwingen. Bei 90 % haben wir Erfolg.«
Es gibt in allen Gruppen ein gemeinsames Frühstück. Eltern kaufen ein und zahlen 10 Euro extra im Monat. Obst und Brot sind obligatorisch. Diese kleine Selbstverständlichkeit funktioniert nur, wenn alle da sind. Und sie klappt auch nur, wenn alle bezahlen.
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