Neukölln ist überall (German Edition)
acht Jahren als Stiftungschef viel dazu gelernt und bin auch erschrocken. (…)
Wir tun vor allem zu wenig für jene Schulen, in denen es wirklich brennt. Es geht nicht nur um die Hauptschulen, sondern auch um bestimmte städtische Viertel, in denen sich die Probleme der Migranten und des schwachen sozialen Hintergrundes oftmals konzentrieren. (…)
Zu spät, zu wenig, zu zögerlich. Mit 1000 Bildungslotsen beheben wir nicht das strukturelle Problem, das wir haben. Wir müssen zuerst das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern aufheben, damit wir gemeinsam an der Zukunft arbeiten können.«
Klaus Kinkel bemängelt in einem weiteren Zitat auch die frühkindliche Bildung in unserem Land: »Wir verlieren zu viele Jugendliche, weil wir in der frühkindlichen Bildung zu spät und zum Teil auch falsch mit den Kindern lernen.«
Klaus Wowereit unterstreicht in seinem Buch die Aussagen des früheren Außenministers. Er wird an dieser Stelle auch ganz konkret, indem er sagt, dass die Bildungseinrichtungen in »Stadtteilen mit besonderem Handlungsbedarf«, wie er die sozialen Brennpunkte nett zu verpacken pflegt, einer besonderen Ausstattung bedürfen. Materiell wie personell. Nahtlos schließt sich seine Ankündigung aus dem Jahre 2009 an, künftig sollten »bis zur 4. Klasse alle Bildungsdefizite der Schüler behoben sein«. Es gelte, »sich vor allem auf die ersten Bildungsjahre zu konzentrieren«. Er hat völlig recht, und ich hoffe, dass der Masterplan für dieses Programm bald fertig ist und der Senat dann durchstarten kann.
Der Ihnen bereits bekannte Stadtsoziologe Prof. Dr. Häussermann brachte es 2010 auf die markante Formel: »Heterogene Schülerschaft entscheidet über den Lernerfolg der Kinder. Im Moment erleben wir meiner Meinung nach eine regelrechte Bildungskatastrophe. Statt beispielsweise für eine gute Mischung zu sorgen, sind bildungsbewusste Eltern gerade dabei, sich mehr und mehr abzusondern.«
Die Bandbreite, mit der die Fachwelt diese Fragen seit Jahren diskutiert, streitig diskutiert, kann kaum größer sein. Ja, es stimmt, viele Eltern in Neukölln nehmen Reißaus, wenn ihre Kinder in das Einschulungsalter kommen. Eigentlich fühlen sie sich im Kiez wohl, aber bei der Schulausbildung hört der Spaß auf. Die Kindergartenzeit kann man ja noch mit einer weltsolidarischen Elterninitiativkindertagesstätte überbrücken, die die Beiträge so gestaltet, dass ungewollter Zulauf ausbleibt. Bei der Einschulung der Kinder allerdings heißt es dann: »Mit dem eigenen Kind experimentiert man nicht.« Oder: »Mein Kind ist kein Integrations-Pionier.« So sind die Sprüche zur Selbstrechtfertigung. Gern auch der taz -Abonnenten. Kennen wir von früher. Links reden – rechts leben.
Das Kind soll nicht in einer Klasse mit verlangsamtem Fortschritt den Anschluss an ein normales Lernniveau verlieren. Deswegen tricksen sie mit Scheinadressen, mit dem Wohnsitz der Oma oder einem angeblichen Umzug. Natürlich wird die billige Gründerzeitwohnung in Nord-Neukölln nicht wirklich aufgegeben. Eine beinahe schon als professionell zu bezeichnende Aktion für die Schulflucht hat uns eine in einem überschaubaren Umkreis lebende Gruppe junger kreativer Eltern mit leichter Antipathie zum Spätkapitalismus vorgemacht. Man kauft sich gemeinsam einen VW -Bus und verpflichtet eine sich bereits im Rentenalter befindende Taxifahrerin. Diese fährt die lieben Kleinen täglich in die Wunschschule im Süden des Bezirks, in der man sich kollektiv angemeldet hat. Ansonsten ist Neukölln aber super, bunt, international und cool. Ein solcher Einfallsreichtum ist aber nicht die Regel, in den meisten Fällen reagieren die Eltern tatsächlich konsequent mit dem Fortzug. Das hört sich leidenschaftslos an, man liest über die zwei Zeilen auch flink hinweg. Für das Gemeinwesen ist diese Form der Segregation eine Katastrophe.
Aber die Situation ist so, wie sie ist. In einem Neuköllner Gymnasium ist im Jahre 2012 kein einziges Kind deutscher Herkunft für den Übergang aus der Grundschule in die 7. Klassen der Mittelstufe angemeldet worden. In einer 8. Klasse des Gymnasiums wurde der einzige deutsche Schüler solange drangsaliert und weggemobbt, bis seine Eltern ihn von der Schule nahmen. Diese Vorgänge führten dazu, dass seitens der Schulaufsicht die beachtliche Feststellung getätigt wurde: »Wir müssen uns langsam Gedanken machen, wie wir die deutschen Schüler schützen.«
Lesen Sie auch die beiden folgenden Elternbriefe. Sie
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