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Neukölln ist überall (German Edition)

Neukölln ist überall (German Edition)

Titel: Neukölln ist überall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Buschkowsky
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»Es ist ein immer währender Kampf um diese 10 Euro. Fast ein Spiel mit Eltern, die laut über ihre Armut klagen, um dann die dicke Rolle Geldscheine aus der Gesäßtasche zu ziehen.« Bei einer Familie standen sage und schreibe acht schwere Autos vor der Tür, aber das Frühstücksgeld konnte nicht erübrigt werden. Da schlägt die Kindertagesstättenleiterin schon mal härtere Töne an. Sie sagt, in ihrer Einrichtung seien ungefähr 20   % der Familien wirklich arm. Das sind die, die für gebrauchte Kleidung dankbar sind. Der Rest befindet sich in der antrainierten Opferhaltung, mit der man in Deutschland sehr gut durchs Leben kommt. Da könne man sich mit gebrauchter Kleidung nur eine Ablehnung einhandeln. Unter denen, so schätzt sie, gibt es noch einmal 20   %, die sie als Deutschenhasser bezeichnet, für die wir alle einfach nur Ungläubige sind. An dieser Stelle berichtet sie mir von Auseinandersetzungen zwischen den Eltern über das Essen. Polnische Eltern wollen Schweinefleisch und haben wenig Verständnis für Halal -Forderungen der Muslime. Letztere am unversöhnlichsten vorgetragen von Konvertiten.
    Stolz berichtet sie von ihrer Väterarbeit. Arabische und türkische Väter mit der Kittelschürze, die in der Küche helfen. Die ehrenamtlich in den Gruppen sitzen und vorlesen. Und die malern, schrauben und reparieren. »Das sind die kleinen Fortschritte, die uns am Leben erhalten.«
    Die Kinder sollen sich frei entwickeln können. Egal, wie verschroben der Vater manchmal ist. In ihrer Einrichtung können Jungen auch mit Puppen spielen. Und sie müssen auch fegen und saubermachen, obwohl das angeblich keine Jungenarbeit ist.
    Es ist schon manchmal abenteuerlich, was einem alles begegnet. Ein Vater verätzte seinem Kind das Gesicht, weil er ihm mit irgendeiner scharfen Substanz den Mund ausgewaschen hat, als er erfuhr, dass sein Kind in der Kindertagesstätte Gummibärchen gegessen hatte, die nicht halal waren.
    Die Einrichtung verfügt auch über türkische Erzieherinnen. Wer glaubt, das erleichtere den Alltag, irrt. Es ist ein erstklassiges Konfliktpotential mit arabischstämmigen Eltern.
    Beim Thema Sprachentwicklung kommt unsere zweite Leiterin zum gleichen Ergebnis wie die erste. Noch vor drei Jahren benötigten 50   % der Kinder eine Sprachförderung vor dem Schulbeginn. Heute sind es erheblich weniger. Und die, die noch eine Förderung brauchen, waren keine zwei Jahre in der Einrichtung: Beim letzten Test waren nur 7 von 55 Kindern länger als zwei Jahre dabei. Hinzu kommt, dass der Besuch mitunter recht unregelmäßig ist und die Kinder Fehlzeiten von bis zu drei Tagen pro Woche aufweisen. Die Anwesenheitsquote aller Kinder beträgt höchstens 70   %.
    Eines will sie unbedingt loswerden. Als Beleg dafür, dass auch deutsche Kinder die gleichen Sprachprobleme haben, wurde einmal der Bezirk Hellersdorf angeführt. Es handelte sich aber, wie sich dann herausstellte, um die Kinder von Spätaussiedlern aus Russland.
    »Es bringt gar nichts, das Kind ein Jahr in die Kindertagesstätte zu schicken. Wir brauchen eine Kindertagesstättenpflicht. In Brennpunkten sind Kindertagesstätten familienergänzende Einrichtungen.« Meine Gesprächspartnerin wird bitterer. Sie sagt, unsere Gesellschaft sei zu schlapp für die Kinder. Wir schauen zu, wie Kindergeld für alles Mögliche ausgegeben wird, aber nicht für die Kinder. Wir entmündigen die Eltern, indem wir sie behutteln und betutteln. Man nimmt ihnen damit jedes Verantwortungsgefühl. »Das einzige, bei dem viele Familien munter werden, ist Geld.« Nur über die Verknüpfung von Geld und Leistung wird man zu Verhaltensänderungen kommen, meint sie.
    Auch sie berichtet von Kindern mit schweren Mängeln im Bewegungsablauf, weil sie nur gekarrt oder im Auto gefahren und bis zum Alter von vier oder fünf Jahren gestillt werden oder bei der Einschulung noch Windeln tragen. Kinder, die in diesem Alter einer normalen Unterhaltung nicht folgen können, weil sie über keinen Wortschatz verfügen, hält sie für fast schon gescheitert.
    »Wir haben die Latte inzwischen sehr niedrig gehängt«, sagt sie. »Ich merke, dass ich zu hart werde. Ich liebe Kinder und möchte ihnen helfen, dass sie den Weg ins Leben finden. Hier stoße ich an meine Grenze. Ich werde meine Einrichtung und Neukölln verlassen.«
    Ein halbes Jahr nach dem Gespräch treffe ich die Kita-Leiterin wieder. Sie hat es wahrgemacht und arbeitet jetzt in einem anderen Berliner Bezirk. »Ich mache

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