Neukölln ist überall (German Edition)
Wortschatz nicht verfügen. Ob sie den Begriff »Flaschenöffner« für das Teil kennen, mit dem sie an ihre Brause kommen, was ein Kronkorken ist, wer ein eigenes Handy und einen eigenen Computer hat oder Sport in einem Verein betreibt. Ob sie zuhören, andere ausreden lassen, stillsitzen und sich konzentrieren können oder Zappelphilippe sind, wird in Minutenschnelle offenkundig. Es sind Kinder aus wirklich verschiedenen Welten, die mich besuchen. Diese Welten entscheiden über ihr weiteres Leben. So etwas darf es eigentlich nicht mehr geben.
Der Rektor einer Grundschule in schwerer See – also in einem »Gebiet mit Ausgrenzungstendenz«, wie Soziologen sagen würden – schrieb mir, dass seine Schüler bis etwa zur 2. Klasse mit ihren eigenen Kompetenzen im Schulalltag gut klarkommen. Ab der 3. Klasse benötigen sie Förderung und Motivationsschübe von außen. Erhalten sie diese Impulse nicht, beginnen sie, sich zurückzuziehen, weil sie nicht mehr mitkommen. Die Leistungen verschlechtern sich rapide, und es stellt sich Schulangst und Schulunlust ein. 20 % bis 30 % der Schüler kommen zwar noch täglich zur Schule, nehmen aber am Unterricht nicht mehr aktiv teil. Bereits zu diesem Zeitpunkt sind bis zu 10 % »schuldistanzgefährdet«, also auf dem Weg zum Schulschwänzer, teilte er mir mit. Von den Eltern komme keine Hilfe. Sie besitzen selbst keine Schulbildung, sind zum Teil sogar Analphabeten, oder es ist ihnen einfach nicht wichtig. Die Kinder werden oft sogar aktiv daran gehindert, rechtzeitig Deutsch zu lernen, und so ist es keine Seltenheit, dass in Berlin geborene Kinder bei der Einschulung kein Wort Deutsch beherrschen. Die Eltern sind nach Einschätzung des Rektors völlig überfordert und belasten ihre Kinder mit ihren Problemen. Konflikte in den Familien werden mit Gewalt gelöst, und den Kindern wird durch die Eltern immer wieder nahegebracht, dass Schule nicht wichtig sei. Auf die Frage, was Abhilfe schaffen könnte, antwortete er: »Wir müssen die Kinder individuell analysieren und versuchen, Verhaltensänderungen in den Familien zu erreichen.« Das gehe nur mit zusätzlichem Personal, weiteren Professionen wie Sozialarbeitern und Erziehungsberatern. »Die Schule allein schafft es nicht«, meinte er.
Ich mache hin und wieder eine kleine Tournee, wie ich es nenne. Ich besuche in einem kurzen Zeitraum verschiedene Grundschulen des Bezirks, immer die gleiche Klassenstufe, immer im selben Lehrfach. Ich beginne im Norden mit einer ganz normalen Schule. Also einer, die am frühen Nachmittag um halb zwei Schluss macht. Über eine gebundene Ganztagsschule ebenfalls im Norden lande ich wieder in einer »Mittags-Schluss-Schule« im Süden. In letzterer ist der Anteil der bildungsorientierten Eltern höher bis sehr hoch. Ich empfehle jedem, der sich für diese Materie interessiert, ein solches Experiment. Es ist ungemein lehrreich. Doch Vorsicht: Es ist ebenso romantikfeindlich. Wer einmal durch verschiedene Schulwelten unterschiedlicher sozialer Milieus gewandert ist, der wird aufhören davon zu fabulieren, es herrsche Chancengerechtigkeit oder die Kinder hätten auch nur annähernd gleiche Voraussetzungen.
Meist gehe ich in die 3. Klassen. Da sind die Kinder auch Fremden noch freundlich zugewandt, nett und nahezu lernwütig. Man könnte sie alle in den Arm nehmen. Egal, welchen Vornamen sie tragen. Aber sie sind eben nicht gleich lernfähig. Der Lehrstoff muss mühsamst immer wieder mit einfachen Worten an sie herangetragen werden, weil sie die Aufgaben oder die Geschichten wegen ihres sehr geringen Sprachstands überhaupt nicht verstehen. Ihnen fehlt der nötige Wortschatz, viele Begriffe haben sie noch nie gehört, können sie nicht deuten und damit keine Inhalte verknüpfen. Sie wissen nicht, was ein Springbrunnen ist, ein Kapitän oder eine Etage. »Finstere Gestalten« muss man ihnen erklären. Oft ist die 3. Klasse fast ein ganzes Jahr zurück. Die Lesekompetenz entspricht der einer 1. Klasse mit Kindern aus bildungsorientierten Schichten. Lesen lernt man nur durch Lesen. Aber zu Hause übt niemand mit den Kindern. Im Schrank steht oft kein Buch. Wozu auch?
Die Schülerinnen und Schüler aus einem fast identischen Wohngebiet, die aber eine Ganztagsschule besuchen, sind bereits weiter. Natürlich bestehen die gleichen Probleme mit dem fehlenden Wortschatz und den mangelnden sozialen Kompetenzen. Aber die Kinder verfügen über mehr Sicherheit, und sie wirken irgendwie selbstbewusster.
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