Neukölln ist überall (German Edition)
über eine solide Pfadfinderausbildung verfügen, um auf der mehrere Kilometer langen Geschäftsstraße einen Imbiss mit Schweinefleischprodukten zu finden. Viel Glück, berichten Sie mir von Ihren Jagdergebnissen.
In der Sonnenallee können Sie häufig nur dann die Dinge des Lebens erwerben, wenn Sie zweisprachig deutsch-arabisch oder noch besser arabisch-deutsch beschlagen sind. Das ist natürlich eine ebenso spaßhafte wie traurige Übertreibung. Aber es ist schon so, dass die arabischen Schriftzeichen an den Geschäften dominieren. Und wer seinen Hunger mit einer ganz normalen Currywurst oder einer Bulette stillen will, kann auch hier nicht gerade auf ein überbordendes Angebot zurückgreifen. Imbisse mit bei den Ur-Berlinern beliebten Produkten gibt es in weiten Teilen der Neuköllner Innenstadt so gut wie kaum noch. Auch das verändert den Charakter einer Straße und eines Wohngebiets und führt zu Überfremdungsgefühlen und Segregation. Wenn Menschen, die die Stadt mit aufgebaut haben, nicht mehr lesen können, was feilgeboten wird, und erst ins Schaufenster blicken müssen, um das herauszufinden, dann verlieren sie ihre Identität und auch die Hinwendung zu ihrem Wohnumfeld. Das »Hier-bin-ich-zu-Hause«-Gefühl schwindet.
Die beiden Stadtteile Nord und Süd entfremdeten sich immer mehr voneinander, ohne dass jemand einen Zaun gezogen hatte. Im Norden veränderten sich der öffentliche Raum und das Straßenbild. Neue unattraktive Branchen beeinflussten das Erscheinungsbild negativ. Das Warenspektrum orientierte sich immer stärker an der unmittelbaren, kaufkraftarmen Anwohnerschaft. Extra hinfahren musste man hierher nicht mehr. All diese Dinge zusammen machten den Niedergang der Geschäftsstraßen unausweichlich.
Der Neuköllner Norden profitierte aber bis zu diesem Umbruch traditionell von den Impulsen und der Stimulanz aus dem Süden. Die immer stärker werdende Abstinenz der Südneuköllner führte folglich auch optisch zu einer starken Dominanz der Einwanderer. Was soll ich denn da? Zu kaufen gibt es nichts für mich, und da sind doch nur Ausländer. So entwickelte sich auch innerhalb des Bezirks eine Rangordnung. Die Namen von Straßen und Plätzen, die zu meiner Jugendzeit geachtete und völlig unspektakuläre Aufenthaltsorte waren, wurden plötzlich nur noch beklagend oder geringschätzig in den Mund genommen. Menschen, die erzählten, dass sie in der Soundso-Straße geboren und aufgewachsen seien, schlossen den Satz mit: »… da kann man heute aber nicht mehr wohnen«, oder wurden mit den Worten bemitleidet: »Na, da sind Sie wohl gerade noch rechtzeitig weggekommen.«
Der Bau eines großen Einkaufszentrums im Süden machte dann der Geschäftswelt im Norden wohl endgültig den Garaus. Auch wenn der größte Teil der Kundschaft bereits vorher weggeblieben war, so hatte der verbliebene Rest jetzt ebenfalls eine Alternative, die er gerne annahm. Ja, man fuhr sogar aus dem Norden in den Süden, um im neuen Einkaufszentrum die Dinge zu erwerben, die es im Wohngebiet nicht mehr gab. Namen wie Quelle, Leffers, Leiser, Hertie und viele andere hatten sich hier längst verabschiedet.
Heute muss man eingestehen, dass sich zwei unterschiedliche Lebenswelten im Bezirk etabliert haben. Alles nicht in Reinkultur, aber das Gesamtergebnis lässt sich nicht beschönigen. Überall gibt es Einsprengsel, im Norden Wohnblöcke mit völlig unauffälliger bürgerlicher Bewohnerschaft oder im Süden Neonazi-Cliquen und punktuelle Einwanderermilieus der Bildungsferne.
Nachdem sich die Entwicklung im Neuköllner Norden so dramatisch zugespitzt hatte, konnte es nicht überraschen, dass immer mehr Teilgebiete in die Förderkulisse des Programms »Soziale Stadt« aufgenommen werden mussten ( QM -Gebiete – Quartiersmanagement-Gebiete). 1999 waren es drei Quartiere, drei Jahre später vier, im Jahr 2005 bereits neun, und seit 2009 sind es zehn QM -Gebiete sowie ein zusätzliches Förderprogramm »Aktionsraum Plus«. Im Grunde genommen ist der gesamte Neuköllner Norden inzwischen ein einziges Fördergebiet. Dieser Erkenntnis ist eine jahrelange Auseinandersetzung zwischen Prof. Dr. Häussermann und mir auf der einen und dem Land Berlin auf der anderen Seite vorausgegangen. Im Ergebnis ein Erfolg für Neukölln, wenn auch mühsam erkämpft.
Das Programm »Soziale Stadt« hat bisher rund 1500 Projekte mit den Schwerpunkten Bildung, Integration und Partizipation finanziert. Das Fördervolumen beläuft sich auf insgesamt
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