Neukölln ist überall (German Edition)
schon. Ein junger Mann spricht mich an, der mich offenkundig erkannt hat. Es stellt sich heraus, er ist 20 Jahre alt, türkischstämmig und hat zwei Jahre zuvor in Neukölln sein Abitur abgelegt. Er engagiert sich ehrenamtlich in einem Projekt, das sich in einer bekannt schwierigen Schule Schülern widmet, um als gutes Beispiel wegweisend zu wirken und Jugendlichen mit Migrationshintergrund politische Bildung nahezubringen. »Vor einem halben Jahr habe ich eine 7. Klasse zur Betreuung übernommen. Die Kinder kamen alle frisch von der Grundschule. Nach dem Neuköllner Weltbild waren sie völlig normal. Ich konnte gut mit ihnen arbeiten. Heute, ein dreiviertel Jahr später, sind fast alle völlig kaputt. Ich kann mit ihnen kaum noch etwas anfangen.« Ob er eine Erklärung für den Wandel habe, frage ich ihn. »Ja«, sagt er, »Alkohol und Drogen. Kiffen tun alle.« – »Und die Lehrer, was machen die?«, entgegne ich. »Gar nichts, die sind auch kaputt und kommen an die Kids noch weniger ran als ich«, war seine resignative Bemerkung.
Der junge Mann war sehr betroffen. Ich merkte, wie sehr die Situation ihm zusetzte. Zum einen, weil er sich die Frage stellte, ob nicht er versagt hätte, und zum anderen, weil ihm klar wurde: Sein Lebensweg und der seiner Schützlinge werden wohl nicht in die gleiche Richtung gehen. Nach einem solchen Erlebnis ist man bedient für den Abend. Nicht einmal Ente kross konnte mich da noch richtig erfreuen. Ich kenne die Schule, von der er mir erzählte. Sie bräuchte dringend unsere Hilfe. Auf 100 freie Schulplätze kamen dort zum letzten Schuljahreswechsel ganze 20 Anmeldungen.
Für die inneren Angelegenheiten einer Schule sind bei uns in Berlin nicht die Bezirke zuständig. Eigentlich haben wir in den Schulen gar nichts zu sagen. Wir dürfen nur die Toilettentüren reparieren oder in Brand gesteckte Teile wieder aufbauen lassen. Dass von den vollmundigen Versprechungen, die ich eingangs zitiert habe, irgendetwas in der Praxis umgesetzt worden wäre, habe ich noch nie erlebt. Im Gegenteil. Wir bleiben wohl die Abschiebestation für die, die man woanders nicht haben will. Aber man wird sie brauchen, diese unsere Kinder, wenn sie die Renten und Pensionen des Bürgertums sichern sollen.
Das wird aber nicht so gehen wie in amerikanischen Kinofilmen, in denen ein »Hero« in der von »Outlaws« beherrschten Schule erscheint und in 90 Minuten alle Probleme löst. Bei uns dauert das ein bisschen länger. Ich glaube, dass es ein guter Schritt war, in Berlin das viergliedrige Schulsystem abzuschaffen. Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Gesamtschule. Heute haben wir nur noch zwei Schulformen, die Sekundarschule und das Gymnasium. An beiden Schultypen kann man das Abitur ablegen. Auch Spätstarter bekommen also eine Chance. Am Gymnasium geht es ein bisschen schneller, an der Sekundarschule hat man ein Jahr mehr Zeit. Es gibt keine »Ausländerresteschulen« mehr. Und auch keine Endstationen. Wir wissen, dass pädagogische Reformen ihre Ergebnisse nach etwa zehn Jahren zeigen. Auf das Hopp oder Topp müssen wir also warten.
Den Zeitraum des Wartens können wir aber nicht tatenlos verstreichen lassen. Unsere Schulen brauchen jetzt Hilfe und Unterstützung. Was ganz bestimmt nicht hilfreich ist, ist die Form von Bürokratie pur, wie sie uns immer wieder begegnet.
Ein junger, mit sechs Jahren aus der Ukraine eingewanderter Mann besteht sein Abitur mit der Traumnote 1. Er studiert Biochemie und erhält aufgrund seiner außerordentlichen Studienleistungen vom Fakultätsrat der Uni die Sondergenehmigung, den Masterabschluss zu überspringen und gleich in die Promotionsphase einzutreten. Unmittelbar vor Abschluss seiner Doktorarbeit stehend, arbeitet er als Vertretungslehrer an einer Neuköllner Schule. Die Schule bietet ihm eine Stelle an, die er auch gerne annehmen würde. Doch beide haben die Rechnung ohne den Wirt in Gestalt der Schulbehörde gemacht. Seine höherwertige Qualifikation wird nicht anerkannt, hingegen auf den Masterabschluss gepocht. »Ich verstehe nicht«, so der junge Mann, »wie es sein kann, dass bei dem herrschenden Lehrermangel in den naturwissenschaftlichen Fächern solch unflexible und irrationale Entscheidungen getroffen werden.«
Ich kann das auch überhaupt nicht nachvollziehen. Junge motivierte Nachwuchslehrer, die den höchstmöglichen Abschluss in Deutschland haben und motiviert sind, an einer Problemschule zu arbeiten, wo es keinen Lehrer lange hält, werden mit
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