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Neukölln ist überall (German Edition)

Neukölln ist überall (German Edition)

Titel: Neukölln ist überall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Buschkowsky
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1989 war im bezirklichen Wahlprogramm der SPD kein Abschnitt zur Integration zu finden. In den politischen Kernforderungen war das Thema nicht enthalten. Auf 32 Seiten findet sich nur ein einziger Satz: »Die hohe Bevölkerungsfluktuation und die Konzentration der Mitbürger ausländischer Nationalität führen im Innenstadtbereich zu problematischen Strukturverschiebungen im Bezirk.«
    Nach der alles überlagernden Euphorie des Mauerfalls waren Mitte der 1990er Jahre die Veränderungen des öffentlichen Raums und die beginnenden sozialen Verschiebungen nicht mehr zu übersehen. Folgerichtig findet sich dann auch seit der Wahl 1995 in jedem Programm ein Abschnitt zur Integration, zu Sprache oder Bildung.
    Von 1995 bis 1999 war ich Jugenddezernent. In diesem Job erlebt man Veränderungen in der jungen Bevölkerung in voller Breitseite. Das ging mir nicht anders. Immer wieder forderten Jugendliche lautstark die Einrichtung eines eigenen Jugendclubs. Auf den Hinweis, dass es doch schon einen Club ganz in der Nähe gebe, hieß es dann: »Mit denen da wollen wir nichts zu tun haben.« Ich musste sehr schnell einsehen, dass Jugendlicher nicht gleich Jugendlicher ist. Sondern dass eben arabische Jugendliche Einrichtungen meiden, die von türkischen dominiert werden, und umgekehrt. Besitzansprüche erhielten eine völlig neue Dimension. Jugendliche, die z. B. westlich der Hermannstraße wohnten, wurden im Club, der von Jugendlichen östlich der Hermannstraße beherrscht wurde, weggebissen. Ich lernte zu dieser Zeit, was es heißt, wenn junge Menschen zu Gewalt und zum Egoismus erzogen werden. Entscheidend war, wer der Stärkste in der Gruppe und welche Gruppe die stärkste in der Gegend war. Schon vor meiner Zeit, Anfang der 90er Jahre, musste der Bezirk mehrfach Jugendeinrichtungen aufgrund der Gewaltproblematik schließen. Der damalige Jugenddezernent war ein Grüner.
    Wir begannen damals, Stück für Stück ein System von kleineren Stadtteilläden aufzubauen, um den einzelnen regionalen und ethnischen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Im Rückblick glaube ich, das waren die ersten praktischen Reaktionen unserer Bezirksverwaltung, sich auf die veränderten Bevölkerungsstrukturen einzustellen.
    Etwa in demselben Zeitraum begannen auch unsere Schulen darüber zu klagen, dass vermehrt Kinder zur Einschulung kämen, deren Sprachstand eine Beschulung eigentlich nicht zulasse. Sie waren nicht schulfähig. Sie zu Hause zu lassen, war aber auch keine Lösung. So fingen wir an, mit der Sprachausbildung in Kindertagesstätten zu experimentieren. Darüber aber mehr im nächsten Kapitel.
    Während bei uns in Neukölln die Problemdichte allmählich, aber stetig zunahm, reagierte man in anderen Bezirken oder in der Landespolitik zunehmend genervt auf dieses Thema. »Nicht schon wieder die Neukölln-Nummer«, bekam ich immer wieder zu hören, wenn ich überregional auf die sich abzeichnende Entwicklung hinwies. Einen Hoffnungsschimmer gab es 1998, als der damalige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen mit riesigem Medienrummel durch die Bezirke zog, um sich über Integrationsprobleme sachkundig zu machen. Er forderte uns auf, alle Dinge, die wir für wichtig hielten, aufzuschreiben und ihm zu schicken. Er werde dann für Abhilfe sorgen. Der Neuköllner Brief muss auf dem Postweg verlorengegangen sein.
    Es war wohl die Summe der herben Enttäuschungen, die die SPD Neukölln nach der Rathausübernahme 2001 dazu veranlasste, die Grundausrichtung ihrer Politik völlig zu verändern. Auf eine Kurzformel gebracht, lautete damals unser Credo: Nicht jammern, sondern die eigenen Kräfte mobilisieren und nutzen und die anderen krähen lassen, was sie und wie lange sie wollen. Im Prinzip haben wir das bis heute durchgehalten. Das hat sicherlich die Zahl unserer Freunde in der eigenen Partei übersichtlich gehalten, die Zuneigung unter den führenden Genossen bis an die Nachweisgrenze reduziert, aber unsere Wahlergebnisse kontinuierlich gesteigert.
    Im Jahre 2001 war also nach 17 Jahren christdemokratischer Bürgermeister, davon elf Jahre mit absoluter Mehrheit, eine politische Wachablösung erfolgt. SPD , Grüne und Linke schlossen sich zusammen, um eine neue Integrationspolitik zu kreieren, die auch einen Paradigmenwechsel weg von der bisherigen Leitlinie »Wir haben alles im Griff, alles wird gut« bedeuten sollte. Dieser Zusammenschluss, dem viele im politischen Berlin eine Halbwertszeit von maximal sechs Monaten zugetraut hatten, hielt

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