Neukölln ist überall (German Edition)
sinnlosen formalen Bestimmungen vor den Kopf gestoßen.
Das ist vor allem kein Einzelfall. In einer Neuköllner Oberschule ist eine ungarischstämmige Lehrerin mit einem Zeitvertrag tätig. Als Klassenlehrerin in der Brennpunktklasse macht sie einen tollen Job. Deswegen möchte die Schule sie fest anstellen. Der Schulrat ist einverstanden und der Personalrat auch. Doch die hohe Landesschulverwaltung will nicht. Sie hat in Ungarn studiert und einen Abschluss mit zwei Wahlfächern erreicht. In Deutsch und in ungarischer Literatur. Letzteres interessiert hier keinen. Also braucht sie ein neues zweites Wahlfach. Das will sie auch gerne nachholen. Leider geht das nur mit einer Festanstellung. Eine Festanstellung erhält sie aber nur, wenn sie ein zweites Wahlfach hat. Alles klar?
Die beiden vorstehenden Fälle zeigen deutlich, wo wir trotz allen Geredes wirklich stehen und weshalb wir an manchen Stellen nicht weiterkommen. Schade. Wie gut hat es da der Rektor in London.
Dabei wird es Zeit für uns. In Deutschland erlangen etwa 40 % der Schüler die Berechtigung zum Hochschulstudium. Mexiko und die Schweiz schaffen noch weniger, aber ansonsten schneidet kein OECD -Staat schlechter ab. An der Spitze stehen Irland, Israel, Finnland, Polen, Schweden, die alle 80 % bis 90 % auf die Waage bringen. Nun muss man davor nicht in Ehrfurcht erstarren. In anderen Ländern sind Berufe an eine Hochschulausbildung gebunden, die bei uns einen anderen Bildungsweg haben. Beispiele hierfür sind die Meisterausbildung, die man in anderen Ländern so gar nicht kennt, oder das Berufsbild der Erzieher, das in anderen Ländern den Lehrern gleichgestellt ist und eine Hochschulausbildung erfordert. Eine Grundbedingung aber bleibt bestehen. Ob Hochschulausbildung oder nicht, Lesen, Schreiben und Rechnen muss jeder beherrschen. Egal, ob er aus Neukölln kommt, aus Badenweiler oder von der Elbchaussee.
Ich möchte dieses Kapitel mit einer kleinen Geschichte beenden, die so irre ist, dass man sie gar nicht glauben mag. Sie stimmt aber, ich war dabei.
Zur Schlusskonferenz des »Forums demographischer Wandel« war ich beim Bundespräsidenten im Schloss Bellevue eingeladen. Zum Einstieg gab es ein Panel – man kann auch Gesprächsrunde sagen – mit vielen dekorierten und renommierten Wissenschaftlern. Plötzlich erklärte ein Teilnehmer, dass er auf dem Weg zur Veranstaltung eine wunderbare Geschichte in der Zeitung gelesen habe: Eltern aus einem Berliner Nobelviertel hätten sich zu einer Initiative zusammengeschlossen und Bildungspatenschaften für Neuköllner Schüler übernommen. Diese Patenschaften wollten sie beleben, indem sie die Kinder aus Neukölln mit dem Auto von zu Hause abholen und sie dann nach Zehlendorf in die Schule fahren. Die Initiative hatte 20 Köpfe, alle gut betucht, und gab sich den Namen »Lift-Power – Zehlendorf hilft«. Der Fahrdienst sollte die Kinder jeden Morgen holen, damit es nicht zu Schulversäumnissen kommt. Nach der Schule würden die Neuköllner Kinder noch für eine Stunde nach Hause geholt. Es würde Snacks geben, und die Schüler würden sich gegenseitig Harry Potter vorlesen. Danach würden die Neuköllner wieder nach Hause gebracht. Es gab in dem ganzseitigen Pressebericht noch viele weitere Schmankerl, die würden an dieser Stelle aber zu weit führen.
Das gesamte Auditorium hochgeistiger Menschen war beeindruckt. Alle schauten sich an, nickten sich zu, der Bundespräsident war gerührt, und viele drehten sich zu mir um, wohl mit dem Gedanken: Siehste, Buschkowsky, wird doch! Nicht immer alles mies machen. In der anschließenden Kaffeepause wurde ich von mehreren Teilnehmern gefragt, wie ich zu dem Projekt stehe. Leider war ich auf dem falschen Fuß erwischt worden und peinlich berührt. Ich kannte die Aktion überhaupt nicht. Hastig fragte ich per Handy im Rathaus und im Schulamt nach. Doch keiner wusste etwas. So konnte ich mich nur in Belanglosigkeiten des Smalltalks retten, um das Gesicht zu wahren.
Am nächsten Tag kam die Auflösung: Die Veranstaltung hatte am 2. April stattgefunden, und der Artikel war am Tag zuvor erschienen. Es war nichts weiter als der Aprilscherz einer Zeitung. Aber die Geschichte war so schön, und die Spitze der Republik wollte sie halt glauben.
Das System Neukölln
Es ist gar nicht so lange her, dass die Integrationspolitik sich zur zentralen Herausforderung unseres kommunalen Wirkens entwickelt und Eingang in unsere Neuköllner Strategien gefunden hat. Noch
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