Neukölln ist überall (German Edition)
zweiten Schultag ohne Wachschutz kam es in einem Gymnasium zu einem schweren Vorfall mit Drogensüchtigen. Kurze Zeit später folgte ein weiterer Übergriff: Der einzige deutsche Schüler einer Schule hatte außerhalb der Schule Ärger mit einigen arabischstämmigen Jugendlichen einer anderen Schule, und am Tag darauf kam eine Horde von mehreren Dutzend Jugendlichen in die Schule, stürmte in das Klassenzimmer, räumte die Lehrerin beiseite, zertrümmerte das Mobiliar und schlug den Schüler zusammen. Ein Polizist sagte später, er sei der klassische Opfertyp. Auf Nachfrage der Medien wurde der Vorfall als Folge einer Schneeballschlacht bagatellisiert, und einige Monate später konnte sich niemand mehr so recht an die Sache erinnern. Insgesamt hat sich die Zahl der Fälle von Störungen durch schulfremde Personen, Vandalismus, Beleidigungen und Tätlichkeiten an Neuköllner Schulen seit dem Ende des Wachschutzes nach Aussage der Schulen wieder deutlich erhöht. Deshalb wird es im neuen Schuljahr ab 2013 in Neukölln auch wieder Wachschutz geben.
Glücklich ist jede Stadt, die keinen Wachschutz wegen solcher Verhältnisse benötigt. Wir haben ihn gebraucht. In den vier Jahren des Wachschutzes gab es nicht einen einzigen Gewaltvorfall in einer Neuköllner Schule, der durch Außenstehende ausgelöst oder verursacht worden wäre. Darüber hinaus können die Wachschützer 400 Fälle belegen, bei denen sie durch ihre Anwesenheit und ihren Einsatz Eskalationen und Gewaltvorfälle verhindert haben. Wenn es Maßnahmen in den letzten Jahren in Neukölln gegeben hat, die nachweislich ihren Zweck erfüllt haben, dann gehört der Wachschutz definitiv dazu.
Wo genau wir heute mit unseren Schulen stehen, lässt sich pauschal nicht beantworten. Ich kenne auch nicht jede Schule von innen. Aber ich kenne eine erkleckliche Anzahl mehr, als in diesem Abschnitt zu Wort gekommen sind. Der Fokus lag auf den Bereichen, in denen wir unser Pflichtenheft noch nicht abgearbeitet haben. Dort, wo wir nach wie vor blind sind. Natürlich gibt es Schulen in Neukölln mit einem hervorragenden Profil, musisch, sprachlich, sportlich, naturwissenschaftlich. Es gibt Schulen, die besuche ich zur Erbauung, um die negativen Erfahrungen nicht zur Norm werden zu lassen, um mich selbst wieder aufzurichten und zum Weitermachen zu motivieren. Ich kenne auch viele Elternvertreter, die einen tollen Job machen. Das alles gibt es. Ich sagte ja bereits, wir haben immerhin 66 öffentliche Schulen.
Natürlich kenne ich auch nicht jeden unserer 3500 Lehrerinnen und Lehrer und nicht jedes Kollegium. Aber ich nehme wahr, dass die Stimmung nicht gut ist. Es hat sich irgendwie ein Duckmäusertum breitgemacht. Die Macht der Political Correctness, öffentliches Mobbing und Resignation haben bei vielen wohl ihren Tribut gefordert. Starke Schulleiterinnen und Schulleiter sind in Pension gegangen. Einige haben sich versetzen lassen. Anderen wurde der Schneid abgekauft. Ich vermisse inzwischen eine ganze Reihe von mutigen Gesprächspartnern. Zum Beispiel den Rektor, der die Äußerungen seiner Schüler nach dem Mord an Hatun Sürücü – Sie ist zu Recht gestorben, sie hat gelebt wie eine Deutsche – öffentlich machte und dafür »Prügel« bezog. Ich verneige mich vor denjenigen, die Tag für Tag die Werte unserer Gesellschaft verteidigen und sich nicht kleinkriegen lassen. Egal, wie stark die Hierarchie ihre Krallen unter der Decke zeigt. Ich hatte bereits angedeutet, dass mir Journalisten zunehmend sehr deutliche Hinweise geben, dass sich Aktive aus dem Berliner Schuldienst nicht mehr trauen, ihr Gesicht zu zeigen, ihren Namen zu nennen oder sich überhaupt öffentlich zu äußern.
Die Gesamtsituation hat sich in der Sache nicht viel verändert. Wir haben etliche Schulen ohne Leitung – zum Teil seit Jahren. Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die ausgebrannt sind, und Schulen, bei denen mir eigentlich die Kinder leid tun, weil sie dort hingehen müssen. Wir haben nach wie vor zwangsversetzte Lehrer, die mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in Neukölln überhaupt nicht klarkommen. Die auch unsere Einwandererkinder nicht mögen. Die sie hänseln und beschimpfen. Ja, es ist wahr, dass es Diskriminierung an unseren Schulen gibt. Auch in Neukölln. Ich schäme mich dafür. Aber wo Menschen sind, sind auch Unzulänglichkeiten, Schwächen und Entgleisungen.
Manchmal ist es zum Verzweifeln. Ich stehe eines Abends bei meinem Lieblings-Chinesen, die Inhaberin kennen Sie ja
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