Neukölln ist überall (German Edition)
knapp 46 Millionen Euro. Neben den professionellen Stadtteilmanagern beteiligen sich 220 Bürgerinnen und Bürger in den Quartiersräten an den Strategien gegen den sozialen Verfall ihrer Wohngebiete. Das Förderprogramm »Soziale Stadt« ist insofern das einzige Instrument, das politik- und verwaltungsfern vor Ort versucht, das noch vorhandene Engagement mit allen sozialen und kreativen Kräften zu sammeln und als innovative Speerspitze gegen die Interesselosigkeit der Masse zu nutzen. Allein schon aus diesem Grund halte ich den Rückzug der Bundesregierung aus der sozialen Aufgabenstellung des Programms für fatal. Es war eine überaus richtige Entscheidung des Berliner Senats, die Kürzungsraten des Bundes durch Landesmittel auszugleichen. Zumal neben den sozialen Interventionen durchaus auch »handfeste« Projekte auf den Weg gebracht wurden. So entstanden allein zehn neue Jugendeinrichtungen, und viele Spielplätze und Pausenhöfe konnten saniert werden.
Natürlich hinterließen die Veränderungen auch in der Bevölkerungsstruktur deutliche Spuren. Kindertagesstätten und Schulen sind hierbei die einzig verlässlichen Seismographen. Hier kann man zählen, beobachten, reden, Erfahrungen sammeln, Konflikte erleben und lösen. Kinder und ihre Elternhäuser sind das Original. Aus diesem Grund sind die Berichte und Hinweise von Erziehern und Lehrern aus unseren Einrichtungen für mich authentisch. Wichtiger und wegweisender als viele wissenschaftliche Untersuchungen, Abhandlungen und Ergüsse von tatsächlichen oder selbsternannten Experten, Sozialromantikern und Elfenbeinturmpolitikern. Deshalb wird den Stimmen aus der Praxis in diesem Buch auch breiter Raum eingeräumt.
In unseren Grundschulen unterrichten wir rund 14 100 Schüler, von denen 9300 einen Migrationshintergrund haben; das sind 66 %. Im Norden – zur Erinnerung: 150 000 Einwohner – sind es 87 %; 6300 von 7200 Schülern. Klassen mit gar keinen oder nur einigen wenigen Schulkindern deutscher Herkunft sind hier keine Seltenheit. Die Frage, wer hier wen wohin integriert, stellt sich da schon lange nicht mehr. Die einzigen Repräsentanten der deutschen Gesellschaft sind häufig nur noch die Lehrerinnen und Lehrer oder in den Kindergärten die Erzieherinnen und Erzieher. Ein interkultureller Transfer zwischen Kindern deutscher und nicht-deutscher Herkunft ist eher die Ausnahme.
Der Anteil der Schüler nicht-deutscher Herkunftssprache sagt für sich genommen kaum etwas über das soziale Gefüge in den Schulen aus. Erst in Kombination mit der Freistellung von der Zuzahlung bei den Lernmitteln entsteht ein Bild. Nichts zu den Lernmitteln beisteuern müssen alle Erziehungsberechtigten, die öffentliche Leistungen wie Hartz IV , Sozialhilfe, Wohngeld oder Bafög beziehen. Der Anteil betrug im Schuljahr 2011/2012 in ganz Neukölln 55 % und im Norden 79 %. Hier weisen nicht wenige Schulen sogar Befreiungen von über 90 % aus.
Wenn Sie sich von diesen Fakten wieder erholt haben, bedarf der letzte Aspekt noch der Vertiefung. Die Befreiungen bedeuten, dass in einer Schule 80 %, 90 % oder fast alle Eltern keiner geregelten, offiziellen Arbeit nachgehen. Den nicht fassbaren Teil der Aufstocker, also der Erwerbstätigen, die wegen ihres niedrigen Einkommens ergänzende öffentliche Leistungen erhalten, lasse ich an dieser Stelle einmal bewusst außen vor. Hieraus folgt, dass die Kinder in diesen Familien ohne den Einfluss der natürlichsten und entscheidendsten Triebfedern unseres menschlichen Seins sozialisiert werden: einen Lebensentwurf fertigen, ein Ziel haben, Leistung erbringen, Pläne verwirklichen, über Erreichtes Genugtuung empfinden, Misserfolge und Rückschläge verkraften, den Nachkommen ein Vorbild sein, um irgendwann mit ein bisschen Stolz auf sein Leben zurückblicken zu können. Die Kinder erleben nie, dass Vater und Mutter regelmäßig früh aufstehen und dann abends strahlend nach Hause kommen, weil sie Erfolg hatten, oder betrübt sind, weil es einen Misserfolg bei der Arbeit gab.
Die Wechselfälle des Lebens gehen nicht in die Erlebniswelt dieser Kinder ein und bereiten sie nicht auf eigene Lebenserfahrungen vor. Wenn die Lehrerin sie anfeuert: »Ihr müsst tüchtig lernen, damit ihr einen guten Schulabschluss macht, einen tollen Beruf erlernen könnt und viel Geld verdient, damit ihr eine schöne Frau heiraten und einen schwarzen BMW fahren könnt«, dann sagen unsere Kinder: »Aber Frau Lehrerin, das Geld kommt
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