Neukölln ist überall (German Edition)
doch vom Amt.« Das sagen sie nicht, weil sie die Lehrerin ärgern wollen, sondern weil sie es nicht anders kennen. Kinder sind immer nur unser Spiegel.
In einer Grundschule haben wir bei der Feststellung der Befreiung von der Zuzahlungspflicht einmal die elterlichen Bewilligungsbescheide des Jobcenters aufgerechnet. Wir kamen auf rund 500 000 Euro pro Monat. Die gesamte Lebenswelt der Kinder dieser Schule alimentiert die Gesellschaft jährlich mit einem Betrag von sechs Millionen Euro. Ohne das Netz der Gemeinschaft wäre eine ganze Schule mit ihren Kindern nicht lebensfähig. Warum in drei Teufels Namen soll dann diese Gesellschaft nicht auch das Recht, ja die Pflicht haben, Forderungen zu stellen, wie sich diese Welt zum Wohle der Kinder und zum Wohle der Gesellschaft weiterzuentwickeln hat?
Wie dynamisch die beschriebenen Entwicklungen sind, sieht man an der Steigerung der Befreiungen von 33,5 % im Jahr 2004 auf 55 % im Jahr 2012. Die Theorie, dass sich soziale Verwerfungen mit der Zeit »verwachsen«, wird auch an dieser Stelle widerlegt.
Zur Geschwindigkeit der sich vollziehenden Entwicklung kann auch der Hinweis gelten, dass im Jahr 2000 der Anteil der nicht-deutschen Schüler an allen Schulabgängern in Neukölln 25 % betrug. Im Jahr 2011 waren es bereits 57 %. Wenn wir also über Notwendigkeiten von Veränderungen in Bildungssystemen sprechen, so tun wir das nicht über die Bedürfnisse einer kleinen Minderheit. In vielen Städten stellen die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund bereits mehr als die Hälfte der Gesamtschülerschaft. Auch die Wirtschaft muss zur Kenntnis nehmen, dass neben der sinkenden Gesamtzahl durch rückläufige Geburtenziffern mit den Einwandererkindern eine zweite Komponente bei der Gewinnung von Nachwuchskräften hinzukommt.
Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Schülerzusammensetzung kann auch ein Blick auf den Verlauf der Schulkarrieren nicht ausbleiben. Ich konzentriere mich an dieser Stelle auf die Abiturquoten. Im Jahre 2000 haben 10 % der migrantischen Schüler in Neukölln die Schule mit dem Abitur abgeschlossen. 2011 waren es 22 %. Wer hieraus eine exorbitante Steigerung der Schulerfolge von Einwandererkindern schlussfolgert, springt zu kurz. Denn ein solcher Anschein relativiert sich schnell, wenn man die Zahlen mit der Abiturquote deutschstämmiger Schüler vergleicht. Sie ist im selben Zeitraum von 25 % auf 42 % angestiegen. Die Bildungskluft zwischen den Schülern deutscher und nicht-deutscher Herkunft aus dem Jahr 2000 hat sich also mitnichten verringert. Die migrantischen Schüler haben noch immer nicht im gleichen Umfang Teilhabe am Bildungserfolg wie ihre deutschen Mitstreiter. Im Gegenteil, die Schere ist sogar weiter auseinandergegangen. In Zahlen ausgedrückt: Beim letzten Jahrgang haben 42 % der deutschen Schüler mit der allgemeinen Hochschulreife abgeschlossen, bei den ndH-Schülern hingegen nur 22 %. Die Differenz hat sich von 15 % auf 20 % erhöht.
Dies ist ein gutes Exempel, wie in der politischen Darstellung Sachverhalte schöngeredet und problematische Entwicklungen verschwiegen werden. Die Erfolgsmeldung in unserem Beispiel, dass sich die Abiturabschlüsse in Neukölln in den letzten elf Jahren mehr als verdoppelt haben, ist faktisch vollkommen richtig. Dass dieser Erfolg eingebettet in eine allgemeine Zunahme höherwertiger Schulabschlüsse und bei den nicht migrantischen Schülern die Erfolgsquote deutlich stärker angestiegen ist, wird aber nicht kommuniziert. Ohne die Leistung des einzelnen Schülers schmälern zu wollen, bleibt für mich die Feststellung, dass wir auf dem Bildungssektor bei der Frage der Chancengerechtigkeit nicht wesentlich vorangekommen sind.
Natürlich möchte ich auch den Vergleich der Berliner Zahlen nicht schuldig bleiben. Während in Berlin durchschnittlich 48 % aller deutschstämmigen Schüler ihre Schullaufbahn mit dem Abitur beendeten, waren es bei den Schülern mit Migrationshintergrund lediglich 24 %. Also ein identisches Bild. Die Anzahl der ndH-Schüler nimmt stark zu, auch die Bildungserfolge zeigen eine leichte Tendenz nach oben auf, ohne allerdings auch nur im Entferntesten an den Standard der deutschstämmigen Schüler heranzukommen. Schönreden ist hier auch völlig fehl am Platz. Unser Bildungssystem schafft es über ein halbes Jahrhundert nach Beginn der Einwanderung immer noch nicht, Schüler unabhängig von ihrer Herkunft zu integrieren.
Das
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