Neukölln ist überall (German Edition)
über einen Balkon nach Süden oder Südwesten. Für die Bewohner der Hinterhöfe war das der Durchbruch zum modernen Wohnkomfort. In der Altstadt erfreuten die Bevölkerungsverschiebungen Hauseigentümer und Verwalter nur dezent. Viele Wohnungen standen leer, weil niemand mehr in den Altbauten leben wollte. Da kamen die Wünsche der Gastarbeiter nach eigenem Wohnraum gerade recht. Gern wurden die Fremden aufgenommen. Für diese war wiederum eine eigene Wohnung – auch mit Sanitäreinrichtungen eine halbe Treppe tiefer – gegenüber dem Lager auf dem Firmengelände oder den heimatlichen Wohnformen eine erhebliche Weiterentwicklung. So sortierte sich der Bezirk in den 1960ern bis in die Mitte der 1970er Jahre komplett neu.
Aber zurück zur historischen Entwicklung und den Beiträgen Neuköllns zum Weltgeschehen.
Da ist zuerst Friedrich Ludwig Jahn. Auch Turnvater Jahn genannt. Mit seinen vier Effs – frisch, fromm, fröhlich, frei – begründete er die neuzeitliche Sportbewegung. 1811 schuf er den ersten öffentlichen Turnplatz in der Hasenheide. Der olympische Gedanke war ihm damals nicht so nahe. Ihm ging es mehr um eine patriotische Erziehung mit körperlicher Ertüchtigung als Vorbereitung auf den Befreiungskrieg von der napoleonischen Herrschaft. Da man später staatsfeindliche Motive hinter seinem Treiben vermutete, landete er fünf Jahre im Knast. Sei es, wie es sei, ohne Turnvater Jahn keine Olympischen Spiele, keine Europameisterschaften, keine Bundesliga, keine Schiedsrichter- und Doping-Skandale und keine Sportübertragung im Fernsehen. Wir Neuköllner haben uns dafür aufgeopfert. Dank haben wir dafür nie gehört. Im Gegenteil, wenn heute das Wort Hasenheide fällt, rümpfen viele die Nase. Nur, weil dort 50 Drogerie-Einzelhändler ihr inzwischen 25-jähriges Betriebsjubiläum feiern (die Hasenheide ist als Drogenumschlagplatz bekannt). Niemand spricht von dem kleinen, aber wunderschönen Tierpark, dem im Bau befindlichen Hindu-Tempel oder eben dem Jahn-Denkmal und klopft uns auf die Schulter. Böse, grausame Welt.
Die tatsächliche Verelendung des Proletariats und die Bildungsarmut inspirierten schon immer Menschen, zu uns zu kommen und nach neuen Wegen zu suchen. Schulreformer wie Kurt Löwenstein und Fritz Karsen haben in Neukölln gewirkt. Ende der 1920er Jahre entstand die erste staatliche Gesamtschule Deutschlands. Die Arbeiterabiturkurse hatten hier ebenfalls ihren Ursprung, wie Neukölln auch insgesamt in der entstehenden Volkshochschulbewegung eine Vorreiterrolle übernahm. Die Neuköllner Musikschule trägt den Namen des bedeutenden Komponisten Paul Hindemith. Sie gehört zu den ältesten drei Musikschulen Deutschlands. Mies van der Rohe und Max Taut begründeten hier ihre Karrieren, und die Hufeisensiedlung von Bruno Taut aus den 1920er Jahren ist heute Teil des Weltkulturerbes. Es war damals eine Sensation, Wohnungen mit allen Sanitäreinrichtungen und einem dazugehörigen Garten zum Standard für die Arbeiterklasse zu machen. Noch heute fahren die Busse mit Architekturstudenten durch die Hufeisensiedlung.
Die Perinatalmedizin wurde Anfang der 1960er Jahre in Deutschlands größter Geburtsklinik von Prof. Dr. Erich Saling entwickelt. Millionen Menschen verdanken seinen Forschungen zur Behandlung des ungeborenen Lebens, zu Diagnose und Therapiemöglichkeiten bereits im Mutterleib, ihr Leben.
Nicht weit davon entfernt forschten und experimentierten Prof. Dr. Emil Sebastian Bücherl, der Physiker Prof. Dr. Max Schaldach und der Elektroingenieur Otto Franke am Kunstherz und den technischen Möglichkeiten der Kardiologie. Sie entwickelten den ersten deutschen implantierbaren Herzschrittmacher. Hieraus entstand der heute größte Neuköllner Arbeitgeber und einer der Weltmarktführer in der Kardio-Technik, die Firma Biotronik. Ich denke, nur die wenigsten Herzschrittmacher- und Defibrillatorträger ahnen, dass ihr Leben zwar nicht am seidenen Faden, aber am Prozessor aus Neukölln hängt.
Das größte und seit vielen Jahren auch wirtschaftlich erfolgreichste Kongresshotel Deutschlands steht natürlich in Neukölln. Mit rund 2000 Kongressen und 300 000 Übernachtungen jährlich ist es auch ein starker Wirtschaftsfaktor für die gesamte Stadt. Ein Drittel der Weltjahresproduktion von Marzipan stammt allen Werbespots zum Trotz aus Neukölln. Bei uns werden 200 Millionen Zigaretten täglich hergestellt, und der Cowboy bringt sie in viele Länder der Welt. Am liebsten rauchen Japaner
Weitere Kostenlose Bücher