Neukölln ist überall (German Edition)
was sie wollen.
Die Politik lässt zu, ja, sie fördert es sogar, dass Menschen in ihrer Identität als Staatsbürger der Nerv gezogen wird und sie ihrer Seele beraubt werden. Dass der Begriff »kultursensibel« auch auf die eigene Bevölkerung anwendbar sein muss, ist keine Sichtweise des Multikulti-Mainstreams. Mit ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl am Puls der Bevölkerung hätte man nicht mit Entsetzen auf die Verkaufszahlen eines ungeliebten Buches zu schauen brauchen. Man bräuchte keine Integrationsgipfel, über die kaum noch die Lokalblätter berichten. Zu nachhaltig ist ihre Bedeutungslosigkeit enttarnt. Die DDR ist auch daran zugrunde gegangen, dass niemand im ZK mehr wusste, was in der Kaufhalle geredet wird.
Irgendwann habe ich aufgehört, Karten in diesem Spiel zu ziehen. Zu pharisäerhaft erschien es mir, den Menschen weiszumachen, es läuft alles rund in unserem Neukölln. Wir brauchten angeblich bis zu meiner Amtsübernahme im Jahre 2001 keinen Integrationsbeauftragten bei 120 000 Einwanderern. Es gab auch keinen Ausländerbeirat, wie diese Institutionen damals hießen. Die politische Mehrheit jener Zeit weigerte sich überhaupt, irgendein Problem zu erkennen. Die Wirtschaft blühte dank mantrahafter Beschwörungsformeln, und in unseren Schulen wuchsen lauter kleine Einsteins heran. Allerdings ohne die Grundrechenarten zu beherrschen, dafür aber als kulturelle Bereicherung. Aber Einstein war ja bekanntlich auch ein schlechter Schüler.
Ich selbst stellte schnell ein Phänomen fest. Je öfter ich Dinge aus- und ansprach, die jeder Mensch mit normalem Augenlicht sehen konnte, desto flinker festigte sich meine Bösewichtrolle. Anfangs war ich irritiert: Warum solche Hysterie um evidente Gegebenheiten des Alltags? Na ja, ich hatte zu jener Zeit die Spielregeln noch nicht ganz verstanden. Recht bald merkte ich dann, dass Ungnade der bestimmenden Kaste auch Zuneigung bei den normalen Menschen auslösen kann. Ich begann, mit der Ätze zu leben und die Anerkennung der Bürger als Adrenalin zu empfinden.
So wurde ich zum Alarmisten. Jedenfalls nach Meinung des Integrationsbeauftragten des Berliner Senats. Weil ich überhaupt etwas sagte. Das war nicht üblich. So wurde ich zum Rassisten, jedenfalls nach Auffassung der selbsternannten Weltbürger und Ethno-Universalisten, weil ich sagte, an welcher Stelle und bei wem etwas nicht funktioniert. Bis hin zum Neofaschisten, weil ich sagte, da müssen wir ran, etwas tun und die Verhältnisse ändern. Zur Not auch gegen Unwilligkeit.
Besonders unterhaltend sind immer die Hinweise, warum ich vor Ort als langjährig Verantwortung tragender Kommunalpolitiker nicht längst alle sozialen Verwerfungen beseitigt, alle Bildungsprobleme gelöst und alle Integrationsfragen beantwortet habe. Die darin zum Ausdruck kommende Einschätzung der Leichtgewichtigkeit der Materie, die von jedem Dorfschulzen im Handumdrehen getroubleshootet werden kann, lässt aufhorchen. Heißt es doch sonst immer, dass es sich um die Zukunftsfrage unseres Landes handelt, für die wir einen langen Atem brauchen und die nur generationenübergreifend zu lösen ist.
Auch als etwas ungeduldiger Mensch kann ich dieser Einschätzung ein gewisses Realitätsbewusstsein nicht absprechen. Ein beliebter Spruch aus dem Buch der Unverbindlichkeiten lautet: »Über den Erfolg der Integration wird vor Ort in den Städten und Gemeinden entschieden.« Ist noch nicht einmal ganz falsch. Aber dann muss man die örtliche Ebene auch machen lassen. In Berlin kann kein Bezirksbürgermeister über Klassengrößen, Lehrereinstellungen, Kitagruppengröße, Kita-Pflicht, Kindergeld, Fachpersonal an Schulen, Einrichtung von Ganztagsschulen usw. usw. usw. entscheiden. Da müssen dann schon die Herrschaften der Landes- und Bundesebene ran. Wenn die sich dann hinter der Kommunalpolitik verstecken, wird es einfach nur peinlich. Oder sie haben schlicht keine Ahnung, wovon sie reden. Kann ja mal vorkommen.
Viele große Köpfe kamen inzwischen zu uns nach Neukölln. Öffentlich oder vertraulich. Einige holten sich Wissen, andere Inspiration. Aber keiner hat anschließend wirklich etwas Durchgreifendes verändert. In der Integrationspolitik herrscht Rat- und Zahnlosigkeit. Aber irgendwann, wenn der Leidensdruck da und übermächtig sein wird, wird man Terrierqualitäten brauchen.
Wenn aber schon alles aufgeschrieben ist, wozu dann noch dieses Buch, das Sie in der Hand halten? Das hatte ich mich genauso gefragt und
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