Neukölln ist überall (German Edition)
eigentlich entschieden, dass die Welt es nicht braucht. Richtig , werden die einen sagen, wäre er doch bei dieser Meinung geblieben. Aber dann kamen die anderen, die Akteure in Neukölln, die Zuhörer bei Veranstaltungen, die da sagten: Schreiben Sie alles auf. Es soll später keiner sagen können, er hätte es nicht gewusst. Allmählich kam auch das Ende meiner aktiven politischen Tätigkeit um die Ecke. Und plötzlich wollte ich doch noch das eine oder andere Rezept auf dem Schreibtisch liegen lassen.
Dieses Buch beschreibt die Welt von Menschen in ihrem Alltag. Es skizziert die Gedanken und die Gefühle, aber auch das Handeln derjenigen, die sich Tag für Tag im so wechselhaften Integrationsprozess in Neukölln engagieren. Die sich aber in einer Gesellschaft voller abstruser Realitätsverweigerung und nahezu hysterischer Hexenverfolgung nicht mehr trauen, offen über die in ihren Händen zerrinnenden Zukunftschancen kleiner Menschen zu berichten. Fernsehsender finden immer schwerer aktive Menschen, die vor der Kamera ein offenes Visier haben. Journalisten werden geschnitten und mit verdecktem Beschäftigungsverbot überzogen. Interviewpartner wollen ihren Klarnamen nicht veröffentlicht sehen. Das ist schon eine schwierige Beschreibung für eine angeblich freie und ach so tolerante Gesellschaft. Geistesfreiheit und Meinungsvielfalt finden meist nur Akzeptanz, wenn sie mit den eigenen Koordinaten kompatibel sind.
Ich sehe alle vor mir, die sich mit Propellerarmen den Schaum vom Mund wischen. Ich kann ihnen nur zurufen: Sorgt lieber mit dafür, dass sich die Verhältnisse ändern! Dass das reale Leben euer Tun bestimmt und nicht die Sozialromantik der letzten Seminarübung weiter an seine Stelle tritt. Dann wird es auch solcher Bücher nicht mehr bedürfen. Dann könnt ihr auch die nächste Demo gegen rechts absagen. Die beste Willkommenskultur ist Chancengerechtigkeit und gemeinsame Lebensgrundlagen.
Viele haben an diesem Buch mitgewirkt. Haben mich mit Wissen geladen. Sie waren Inspiration, und ihre Erwartungshaltung war meine Motivation. Vielleicht ändert dieses Buch ja etwas, falls ja, dann hat Neukölln wieder einmal den Lauf der Dinge beeinflusst. Falls nein, stellen Sie es zu den anderen.
Neukölln an sich
Der Name Neukölln hat durchaus einen beachtlichen Bekanntheitsgrad erlangt. Das verwundert aber nicht, weil, man ja auch New York, Paris und Rom kennt. Zugegebenermaßen ist es aber so, dass dieses Neukölln erst in den letzten zehn Jahren richtig prominent geworden ist. Die Gründe hierfür sind die Diskussionen um soziale Verwerfungen in Großstadtlagen, um Integrationsprobleme, Parallelgesellschaften und das Versagen des Bildungssystems. Zu all diesen Einzelthemen gibt es widerstreitende Sichtweisen und Interessen. Und am Ende sind sich dann fast immer alle einig: Neukölln ist »Am Rande der Zivilisation«, wie die Süddeutsche Zeitung einmal titelte. Ähnlich wie Herat in Afghanistan befinde sich Neukölln so sehr am Rande der Zivilisation, dass vieles, was passiert, kaum mit unseren Maßstäben gemessen werden könne. Allerdings seien wir als düsterer Hintergrund für Leichenfunde in Krimiserien gut geeignet.
Eigentlich hat das auch schon Tradition. Denn genau vor 100 Jahren wurde die damalige stolze preußische Stadt Rixdorf in Neukölln umbenannt. Für die bürgerlichen Schichten hatte sich der Ruf der Stadt zu negativ entwickelt. Ja, es war nahezu kreditschädigend und ehrenrührig, den Namen im Briefkopf zu führen. Das alte Rixdorf war ein Arbeiterquartier, feuchte Wohnungen in dunklen Hinterhöfen beherbergten arme und kinderreiche, aber ebenso lebenslustige Familien. Getreu dem Motto des alten Gassenhauers »In Rixdorf ist Musike« herrschte, wie man heute sagen würde, ein recht folkloristisches Treiben. Die Hasenheide, eine ca. 50 Hektar große Grünanlage mit dem Vergnügungszentrum Neue Welt und vielen anderen Etablissements, bot Raum für Kurzweil und Pläsier. Freitags war Lohntütenball, und Mutter musste aufpassen, dass sie Vaddern so rechtzeitig von der Kneipe loseiste, dass vom Lohn noch etwas für die Kinder übrig blieb.
Die Namensschöpfung mit Genehmigung seiner allergnädigsten Majestät hatte durchaus einen historischen Bezug. Die im Jahr 1237 erstmalig in Erscheinung getretene Stadt Coelln mit ihrer späteren Vorstadt Neu-Coelln wurde Anfang des 18. Jahrhunderts mit Berlin verschmolzen und ging quasi unter. Die ländlichen Gebiete, die heute den Untergrund des
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