Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
Gunnar ihr hinterher. Jolin machte Anstalten aufzustehen, doch ihr Vater hielt sie am Arm zurück. »Lass sie.«
Jolin schüttelte den Kopf. »Aber jemand muss doch … Oder willst du?«
»Ich denke, es ist das Beste, wenn Paula ein paar Minuten für sich hat.«
»Aber ich möchte mich entschuldigen.«
»Wofür?«
»Ich habe sie erschreckt und gekränkt«, sagte Jolin. »Das war nicht in Ordnung. Früher hätte ich so etwas nie getan.«
»Eben«, sagte Gunnar. »Sie wird sich damit abfinden müssen, dass du dich verändert hast, dass du dir andere Bezugspersonen suchst und …«
»Aber Pa! Du bist doch keine Bezugsperson. Du bist mein Vater. Und Rouben … ist mein Freund.«
»Und ich deine Freundin«, betonte Anna.
»Ja, das bist du«, sagte Jolin leise.
Anna und sie, das war wirklich etwas Spezielles. Die Mädchen mochten sich schon seit der fünften Klasse, teilten die gleichen Leidenschaften gegen das, was die Welt zerstörte, und damit automatisch für alles, was sie möglicherweise retten oder zumindest ein kleines bisschen besser machen konnte. Sie hatten Vögel beobachtet, das Leben von Fröschen und Spinnen erforscht und Handzettel gegen das Halten von Zootieren, das Tragen von Pelzmänteln und das Transportieren von Schlachtvieh durch halb Europa entworfen und verteilt. Später lasen sie die gleichen Bücher, diskutierten bis spät in die Nacht darüber und arbeiteten zusammen Referate für Biologie, Erdkunde oder Religion aus.
Sechs lange Jahre waren sie unzertrennlich gewesen. Anna wohnte nur eine Querstraße weiter, und bis auf wenige Ausnahmen hatte es nicht einen einzigen Tag gegeben, an dem sie sich nicht gesehen hatten. Dann, Mitte des elften Jahrgangs, hatte Anna sich plötzlich mit Klarisse angefreundet, und von einen Tag auf den anderen war alles anders geworden.
Anna hatte angefangen, sich zu schminken, kurze Röcke zu tragen, auf Partys zu gehen und Jungs gut zu finden. Jolin und sie trafen sich nur noch selten, und wenn, dann stritten sie meistens. Anna wollte, dass Jolin sich ebenfalls Klarisses Clique anschloss, doch Jolin ließ sich nur über deren Oberflächlichkeit aus.
Im November vergangenen Jahres war Rouben an ihre Schule gekommen und vom ersten Tag an das Thema Nummer eins bei den Mädchen gewesen. Rouben hatte sich um den Rummel, den er auslöste, jedoch nur wenig gekümmert. Damals hatte Jolin nicht einordnen können, ob er ihm gleichgültig war oder er sich einfach nur still darin sonnte. Inzwischen wusste sie, dass es ihm von Anfang an nur um sie gegangen war, er in seinem Zustand – oder wie auch immer man das nennen wollte – aber nur eine einzige Gelegenheit gefunden hatte, es ihr zu zeigen. Doch leider hatte sie das damals nicht wirklich verstanden und völlig falsch gedeutet.
Nachdem Jolin und Anna die übriggebliebenen Plätzchen in die Dose zurückgelegt und das Geschirr in die Spülmaschine geräumt hatten, waren sie in ihr Zimmer gegangen und hatten es sich auf dem breiten Bett bequem gemacht. Anna hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt, Jolins lagen neben ihrem Körper, die Unterarme zeigten im Neunzig-Grad-Winkel nach oben. Eigentlich sollte sie immer eine Doppelschlinge tragen, damit die Schultergelenke nicht allzu sehr belastet wurden, doch Jolin fühlte sich mit der Schlinge wie in eine Zwangsjacke geschnürt und legte sie meistens erst um, wenn sie Schmerzen in den Oberarmen verspürte.
»Das sieht sooo bescheuert aus«, kicherte Anna. »Du kannst echt froh sein, dass du den Gips bald los bist.«
»Bin ich auch«, sagte Jolin. »Dann kann ich Rouben nämlich endlich richtig in den Arm nehmen.«
Anna drehte sich auf die Seite und sah ihre Freundin mit funkelnden Augen an. »Ja, Mensch, immer nur küssen kann echt langweilig sein, was?«
Rouben zu küssen ist nie langweilig, dachte Jolin lächelnd. Rouben zu küssen war wie ein Erdbeben und ein Glas Honig leerschlecken gleichzeitig. Und von Rouben geküsst zu werden war sowieso mit gar nichts zu vergleichen.
»Mann, du bist …«, murmelte Anna.
»Was?«
»So süß … dein Grinsen … einfach unglaublich.« Sie ließ die Arme über ihrem Kopf in die Kissen fallen und seufzte theatralisch. »Ich fürchte, wenn ich mich nicht auch bald verliebe, dann sterbe ich.«
»Ich glaube ja eher, man kann gar nicht sterben, wenn man vorher nicht so richtig verliebt gewesen ist«, erwiderte Jolin.
Anna seufzte noch ein zweites Mal. »Wahrscheinlich hast du recht. – Oh, Mann«, fuhr sie
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