Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
sehen, entfernte er sich vom Tisch, ließ jene Frau zurück, die er vor Jahrzehnten verloren hatte, und kehrte nun wieder in das neun Quadratmeter große Gefängnis zurück, das sein Leben bestimmte.
Kapitel Drei
„Schatz.“ Eine weibliche Stimme riss Leonard aus dem Schlaf.
Er stöhnte und drehte sich um. Michelle. Er zog die Decke über den Kopf. „Geh weg.“ Sie war die letzte Person, die er jetzt sehen wollte. Er ertrank förmlich in einem Gefühl des Versagens und trauerte dem Ende seines lebhaften Traumes nach; ein Traum, der ihm immer weiter entglitt, je klarer sein Kopf wurde. Nicht jetzt. Vermutlich war Michelle noch einmal zurückgekommen, weil sie etwas vergessen hatte oder vielleicht sogar, weil sie sich entschuldigen wollte. Wenn sie wollte, dass sie wieder zusammenkamen, hätte er ihr nichts weiter zu sagen gehabt. Andererseits wollte sie ihn vielleicht auch nur wecken, um sich an seinem Unglück zu erfreuen. Sicherlich hatte sie den Zustand des Raumes bemerkt – den Feuerlöscher, den Schaum. Es war offensichtlich, dass irgendetwas schief gegangen war und Michelle würde bestimmt jedes ach so kleine, erniedrigende Detail hören wollen.
„Lass mich in Ruhe“, brummte er und verkroch sich weiter unter die Decke.
„Wir müssen reden, Leonard.“ Die Stimme war sanft und mitfühlend.
Leonard? Michelle nannte ihn immer Leo. Sie sagte nur Leonard zu ihm, wenn sie sich über ihn aufregte und dann betonte sie seinen Namen so verächtlich, dass es sich wie eine Beleidigung anhörte. Diese Stimme gehörte jedoch nicht Michelle. Leonard setzte sich stürmisch auf.
Alina.
Leonard fühlte plötzlich ein Kribbeln in seinem Genick. Er sah sich im Raum um. Renoir, geblümte Tagesdecke. Der Wecker zeigte 01:17 Uhr. „Ich träume noch.“
„Das erklärt einiges“, sagte Alina amüsiert. „Dann bist du beim Abendessen wohl schlafgewandelt.“
Leonard erwiderte nichts. Er wurde von dieser wunderschönen Frau in einen Bann gezogen – wie sie dort auf seinem Bett saß und wie ihr langes Haar über ihr grünes T–Shirt fiel. Er streckte den Arm aus und fuhr mit der Hand zärtlich über ihr Gesicht. Sie berührte seine Hand und er bekam am ganzen Körper Gänsehaut. Begierde durchflutete seine Sinne und alles rationale Denken verschwand völlig. In diesem Moment wollte er sie einfach auf das Bett legen und all die verlorenen Jahrzehnte wieder gutmachen.
Sie flüsterte ihm ins Ohr. „Lass uns spazieren gehen.“
„Spazieren gehen kann ich, wenn ich wieder wach bin. Solange ich dich hier bei mir habe, will ich mit dir schlafen.“
„Wir können miteinander schlafen, wenn wir wieder da sind.“ Ihre Stimme war noch immer sehr leise, aber nun klang sie etwas schärfer, möglicherweise sogar drängend.
„Alina, ich werde gleich wieder aufwachen und das Letzte, was ich in diesen flüchtigen Momenten machen will, ist spazieren gehen.“ Er strich mit der Hand über die Seite ihrer Brust.
Alina lehnte sich etwas zurück, runzelte die Stirn und sah ihn nachdenklich an. „Du bist wach, Leonard.“
Er lächelte und wandte sich wieder ihrer Brust zu.
Sie packte seine Hand. „Sieh mich an. Glaubst du wirklich, du schläfst gerade?“
Er nickte.
Ihr Blick wanderte besorgt in alle vier Ecken an der Zimmerdecke. „Was haben sie dir nur angetan?“, murmelte sie kaum hörbar. Dann stand sie auf und sprach in einem gekünstelt lässigen Ton. „Etwas frische Luft wird dir gut tun, Schatz. Zieh deine Hose an und lass uns einen kleinen Spaziergang um den Block machen.“
Er sah an sich herunter. Er hatte nur eine Unterhose und ein schäbiges T–Shirt an. Er fuhr mit einer Hand durch sein schütter werdendes Haar.
Was für ein Hengst. Kein Wunder, dass sie keinen Sex mit dir haben will.
Leonard gab nach und einige Minuten später schlenderte das Pärchen den Bürgersteig entlang. Ein Dreiviertelmond erhellte den Weg nur spärlich. Sie kamen an einem Haus mit einem leicht abfallenden Hof vorbei, dessen Garten stolz eine Auswahl an Herbstblumen zur Schau stellte. Der Mondschein tauchte den Garten in ein silbergraues Licht und verzerrte Leonards Wahrnehmung. Wie er nun mit Alina dort entlang spazierte, sehnte er sich danach, die wahren Farben dieser Blumen sehen zu können.
Jenseits der schimmernden Blumen bildete eine Buschreihe einen kleinen Grüngürtel. Er grenzte die Nachbarschaft der Tramers von einer farblosen, dicht bebauten Siedlung ab. In Leonards Realität war diese Gegend voller
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