Neunerlei - eine Weihnachtserzählung
Weihnachten meiner Kindheit. Dass ein Teil der Besetzung inzwischen gewechselt hatte, machte nichts aus, da es sich nicht um Sprechrollen handelte. Die einzige Anforderung an die drei Darsteller war, auf dem Sofa zu sitzen und recht überzeugend nebeneinander zu schweigen. Bis kurz vor neun hatte ich zwei Gläser Burgunder geleert (aus dem Römer, versteht sich), und als Hannelore zu Vater sagte: »Gib doch ma die Erdnussflips rüber«, wusste ich, dass es Zeit war zu gehen. Mit einer undeutlich gemurmelten Ausrede verabschiedete ich mich überstürzt.
Noch heute sehe ich die beiden auf dem Sofa sitzen, meinen übertölpelt wirkenden Vater neben der säuerlich dreinblickenden Hannelore, und im Wohnzimmerfenster blinkte der Leuchtstern unablässig weiter. Noch von draußen auf der Straße beobachtete ich den ewig gleichen |47| Wechsel von Rot zu Grün und von Grün zu Blau und wieder zu Rot und ließ diesen letzten weihnachtlichen Gruß mit einem wohligen Schaudern hinter mir.
Mein Eintreten wurde vom Klang der Ladenglocke begleitet, die dieses Mal schriller und lauter tönte, fast wie ein Alarm. Als ich vor der Theke stand, fühlte ich mich wieder wie Gregorius von Hohenlinden, und ich hörte ein helles »Ich komme gleich« von hinter dem Regal. Wenig später stand die kokette Blonde vor mir und sah von dem Kranz in mein Gesicht und wieder zurück.
»Ist … die Apothekerin da?« Ich wusste noch nicht einmal ihren Namen.
»Sie wollen zu Frau Lichtblau?«
Ich zögerte. Ich wollte zur Mohnblüte, Lichtblau hörte sich aber auch gut an. Auf gut Glück nickte ich. »Ist sie denn nicht da?« Ich wusste nicht, ob ich enttäuscht oder erlöst sein sollte.
»Doch, doch. Katharina, kommst du mal?«
Und um die Ecke bog die Mohnblüte, so klein und rotwangig, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich brachte ein schwerfälliges »Ja, hallooo!« heraus und sah, wie die Mohnblüte schluckte.
|49| »Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie förmlich.
Ich stellte den Kranz vor mir ab, nestelte in meiner Tasche und zog das Tütchen heraus, schüttete die winzigen Körnchen auf meinen Handteller und streckte sie der Mohnblüte hin. Mit Daumen und Zeigefinger griff sie danach, schnupperte. Dann sagte sie: »Anis.«
»Ah.«
»Ist zum Beispiel in Ouzo oder Raki.«
»Hm.« Rechts von mir spürte ich den neugierigen Blick der Koketten.
»Auch in Pernot. Ist ja nicht jedermanns Sache.«
Ich nickte ein wenig mechanisch, wie ich fand, und rang nach passenden Worten, um den Kranz zu überreichen. Die Kokette glotzte immer noch. Ich warf ihr einen ärgerlichen Blick zu, aber sie ließ sich nicht beirren. Ich überlegte noch und hörte mich schon fragen: »Und … äh … wozu ist Anis gut?«
»Na ja … Anis ist krampflösend und stärkt den Magen, beruhigt, wirkt harntreibend, äh … hilft bei Verdauungsbeschwerden, aber auch bei Migräne und Schwindel.«
Jetzt sah die Kokette die Mohnblüte an, interessiert und irgendwie auch überrascht. Offenbar war sie, wie ich, beeindruckt von deren Wissen. |50| Von wegen, Apotheker verteilen nur Marcomar und Penicillin.
»… zu den Doldenblütengewächsen. Die bodennahen Blätter sind fast rund oder eiförmig, haben einen gezahnten Rand. Die Dolden tragen unzählige weiße, aber auch rosafarbene Blüten, aus denen sich das Aniskorn – der Samen – entwickelt.«
»Ich wusste gar nicht, dass du dich mit Gewürzen so gut auskennst. Ein wandelndes Lexikon.«
Die Kokette stand jetzt ganz nah neben mir. Wenn sie nur endlich wegginge! Wie sollte ich die richtigen Worte finden, wenn jemand zuhörte. Noch dazu jemand mit Ohren so groß wie Rhabarberblätter. Ich wartete noch einen Moment, vielleicht in der Hoffnung, die Kokette würde sich in Luft auflösen. Weil das aber nicht geschah, räusperte ich mich und sagte ein wenig zu getragen: »Ich habe Ihnen eine Kleinigkeit mitgebracht. Und da ich gesehen habe, dass Sie … noch keinen Adventskranz haben …«
Die Kokette kicherte und bestätigte einmal mehr das Bild, das ich von ihr hatte. Die Mohnblüte machte ihrem Spitznamen alle Ehre und errötete. Und ich machte es ihr nach.
»Danke …« Sie hielt den Blick gesenkt. »So einen schönen hatte ich ja noch nie!«
»Weißt du überhaupt, was so ein Kranz
kostet?
«
Ruths Stimme klang alarmiert, beinahe schrill. So als hätte ich mich in irgendeiner Form strafbar gemacht und weigerte mich nun, die Schuld auf mich zu nehmen. Ich begann, einen Karton Vichy-Produkte
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